Am Totensonntag, der an diesem Sonntag begangen wird, wird der Verstorbenen gedacht und zu einem bewussteren Umgang mit der Lebenszeit ermutigt. Wem es gelingt, Abschied und Tod im Alltag zu bewältigen, bekomme auch sein Leben besser in den Griff, heißt es bereits in christlichen Texten aus dem Mittelalter. Vergänglichkeit wird so als Gewinn und nicht als Verlust erfahren. Hubert Knoblauch beschäftigt sich wissenschaftlich mit dem Tod. 1999 schrieb der Berliner Soziologe eine Analyse über Menschen mit Nahtod-Erfahrungen. Jetzt startet er zusammen mit Wissenschaftlern aus Zürich, Aachen und Marburg ein Forschungsprojekt über den veränderten Umgang der Gesellschaft mit dem Thema „Tod und toter Körper“.
Frage: Was ist der Anlass für Ihr Forschungsvorhaben?
Hubert Knoblauch: Es gibt eine große Auffälligkeit in Deutschland, nämlich den Rückgang der Zahl klinischer Sektionen. Sie liegt derzeit nur noch bei drei Prozent, im Unterschied zu 30 Prozent zum Beispiel in Österreich. Und die zweite Auffälligkeit ist: Ganz im Gegensatz zum toten Körper wird der Tod ansonsten in der Gesellschaft viel weniger tabuisiert.
Warum soll es wichtig sein, mehr Sektionen vorzunehmen?
Knoblauch: Weil die medizinische Leichenöffnung entscheidend ist für die Todesursachenstatistik. Und auf der beruhen wichtige gesundheitspolitische Entscheidungen. Nehmen wir das Beispiel Rauchen und die Diskussion um Rauchverbote. Um eine zuverlässige Mortalitätsstatistik zu bekommen, müsste die Sektionsrate auch bei uns bei 30 Prozent liegen.
Aber ist es nicht verständlich, wenn man nicht will, dass sein verstorbener Ehepartner, sein totes Kind oder seine Eltern aufgeschnitten werden?
Knoblauch: Ja, natürlich, aber interessant ist doch die Frage, warum die Skrupel ausgerechnet an dieser Stelle zugenommen haben, obwohl die Gesellschaft sonst nicht nur mit dem Tod, sondern auch mit dem toten Körper heute so unverkrampft umgeht wie noch nie. Nehmen Sie das Fernsehen. Da können Sie schon ab nachmittags permanent Tote sehen.
Und was glauben Sie ist der Grund?
Knoblauch: Es ist vorerst natürlich nur eine Spekulation. Aber wir glauben, dass es einen Zusammenhang mit der neuen Körperlichkeit gibt. Es gibt eine steigende Tendenz, die Identität am Körper festzumachen. Demzufolge könnte auch der Skrupel wachsen, einen toten Körper quasi zu verletzen, indem man ihn öffnet. Das würde bedeuten, dass die neue Körperlichkeit die Todesgrenze überschreitet. Die Art und Weise, wie eine Gesellschaft mit dem Tod und dem toten Körper umgeht, zeigt immer auch, welches Bild sie vom lebenden Menschen hat.
Liegt die niedrige Sektionsrate in Deutschland nicht vielleicht einfach an der Rechtslage?
Knoblauch: Das mag ebenfalls eine Rolle spielen. Denn in Deutschland müssen die Angehörigen einer Sektion ausdrücklich zustimmen. In anderen Ländern gibt es lediglich ein Widerspruchsrecht. Teil unserer Untersuchung wird auch ein Vergleich der verschiedenen rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen sein. Eine weitere strukturelle Ursache könnte darin liegen, dass die Ärzte, die bei uns medizinische Sektionen vornehmen, daran aus verschiedenen Gründen kein Interesse mehr haben oder das nicht gern machen.
Wie wollen Sie überhaupt herausfinden, warum so wenige Tote zur Sektion freigegeben werden?
Knoblauch: Wir werden unter anderem versuchen, die Gespräche zwischen Ärzten und den Hinterbliebenen nachzuvollziehen, in denen über eine Sektion entschieden wird. Dazu werden wir mit beiden Seiten Interviews führen.
Hätte eine höhere Sektionsrate auch Auswirkungen auf die Mordstatistik?
Knoblauch: Es wird seit langem vermutet, dass unnatürliche Todesursachen nicht vollständig oder sogar nur zu einem geringen Teil erkannt werden. Aber das ist nicht Gegenstand unserer Untersuchung. Die gerichtsmedizinische Sektion ist ein ganz anderes Feld, auch mit einer ganz anderen Rechtslage.
Zur Person
Hubert Knoblauch Der 49-jährige Soziologe hatte nach Lehraufträgen und Forschungsaufenthalten an Universitäten in der Schweiz, Frankreich, Österreich, England und Kalifornien eine zweijährige Professur für Religionssoziologie und Religionswissenschaft an der Universität Zürich (2000 bis 2002) inne. Seit 2002 ist er Professor für Theorien moderner Gesellschaften im Fachgebiet Allgemeine Soziologie an der Technischen Universität Berlin.