Frage: Sie waren mal Mitglied des Kabaretts „Stichlinge“. Zu welcher Brettlspitze würden Sie denn die Plakate mit FDP-Vorsitzendem Christian Lindner in Dressman-Pose inspirieren?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Ich würde sagen, das ist eine coole Type. Er ist mutig, hat ein gutes Selbstvertrauen, bricht Gängiges auf. Werbefachleute meinen sogar, dass Lindner Kultstatus bei den Jungen erreichen könnte. Und im Übrigen sind die Plakate der anderen Parteien auch auf deren Spitzenkandidaten zugeschnitten.
Auch die Slogans sind kreativ. Ein Beispiel: "Schulranzen verändern die Welt, nicht Aktenkoffer." Wen soll der Satz ansprechen?
Leutheusser-Schnarrenberger: Die Schulranzen stehen für die Bedeutung der Bildung. Wir wollen junge Menschen neugierig machen auf das, was passieren wird. Schulranzen sind heute quasi ersetzt durch mobile Endgeräte. Die verändern die Welt. Da gibt es globale Herausforderungen. Aktenkoffer verbinden wir mit Bedenken-Wälzen und Argumenten, die beweisen sollen, was alles nicht geht.
Laut Wahlprogramm will die FDP die "weltbeste Bildung", ein "Mondfahrtprojekt", vor allem durch technischen Ausbau und Leistung verwirklichen. Welche Kinder und Jugendlichen können in dem Raumschiff mitfahren?
Leutheusser-Schnarrenberger: Wir brauchen an den Schulen, wo alles beginnt, Möglichkeiten für unterschiedliche Entwicklungen. Nicht jeder muss im Raumschiff ganz oben mitfahren. Aber wir wollen Chancen für alle, durch die Ausstattung der Schulen, die Lehrer und neue Modelle, die beispielsweise das Aufbrechen der Klassenverbände ermöglichen. Gerade in den ersten Jahren ist es wichtig, gute Angebote zu schaffen, damit niemand zurückbleibt. Wir wollen einen besseren Übergang in weiterführende Schulen. Aber nicht jeder wird Uniprofessor. Im Gegenteil, wir brauchen Handwerksberufe und wollen sie stärken.
Trotz des Themas Bildung ganz vorne im Programm und der Spitze gegen die Aktenkoffer – die FDP bleibt Wirtschaftspartei, oder?
Leutheusser-Schnarrenberger: Wir sind eine Partei, die diejenigen unterstützt, die sich wirtschaftlich betätigen möchten, aber wir sind keine Klientelpartei.
Immerhin plädiert das Wahlprogramm für eine starke Wirtschaft mit den Prinzipien „Ethik, Haftung und Verantwortung des Einzelnen“. Wie weit ist es damit angesichts des Dieselskandals her?
Leutheusser-Schnarrenberger: Ethik ist selbstverständlich wichtig. Gesetze zu umgehen ist nicht die Kreativität, die wir bei den Unternehmen wollen. Aber wir wollen auch nicht den Diesel verteufeln.
Im Gegenteil, Christian Lindner will sogar Grenzwerte für die Luftqualität anpassen.
Leutheusser-Schnarrenberger: Das ist eine Überlegung, weil Lindner sieht, dass wir jetzt schnell etwas tun müssen. Und man kann nicht von heute auf morgen alle Dieselfahrzeuge verbieten, da würde vieles zusammenbrechen.
Was wäre dann die Antwort auf den Dieselskandal? Dieselfahrzeuge nachrüsten auf Kosten der Hersteller, und zwar zeitnah?
Leutheusser-Schnarrenberger: Ja.
Aber sonst spricht das FDP-Programm die Sprache der Unternehmer, für Leiharbeit, Befristungen, Aufweichung des Arbeitszeitgesetzes, Ausweitung von Minijobs. Welche Gefahren sehen Sie persönlich – als eher Linksliberale - für Arbeitnehmer?
Leutheusser-Schnarrenberger: Angesichts der Digitalisierung werden wir um Flexibilisierung gar nicht herum kommen. Es wird nicht mehr in allen Bereichen festgelegte Arbeitszeiten geben. Eine Möglichkeit wären Jahres-Zeitkonten. Ich kann nicht nur auf unseren Markt schauen. Der ist international vernetzt, das macht auch unseren Wohlstand aus. Befristungen, Leiharbeit, Minijobs sind notwendig, etwa für ältere Menschen. Bei jüngeren Menschen muss Ziel sein, sie in dauerhafte Jobs zu bringen.
Wie will die FDP das erreichen? Befristete Stellen, oft niedrig bezahlt, belasten junge Familien.
Leutheusser-Schnarrenberger: Es gibt keine dauerhaften Befristungen, und die Höhe der Einkommen ist eine Sache von Verhandlungen der Tarifparteien. Da wollen wir keine Vorgaben machen. Aber die Sicherheit, wenn ich einen Job habe, läuft alles in festen Bahnen, wird es nicht mehr geben.
Vorankommen durch Leistung ist das Thema im Programm: Bauersleute als landwirtschaftliche Unternehmer, Unterstützungsbedürftigen im aktivierenden Sozialstaat – meinen Sie, diese Gruppen könnten sich mit diesem Anspruch überfordert fühlen?
Leutheusser-Schnarrenberger: Das ist keine neue Programmatik und wird auch anders nicht gehen. Zum Beispiel bei den Bauern. In Bayern gibt es viele Nebenerwerbslandwirte, die ihre Preise nicht mehr bekommen und mit den Umwälzungen auf dem Weltmarkt nicht mehr zurecht kommen. Subventionen der EU sind da keine Lösung. Da wird sich viel ändern müssen, sie müssen sich verstärkt als Unternehmer sehen.
Aber wohl nicht in Richtung Biolandwirtschaft. Die kommt nicht vor. Und zum Thema Klima geht aus dem Programm hervor, die Ziele der Energiewende seien erreicht, das Weitere könne der Markt richten.
Leutheusser-Schnarrenberger: Also, wir sind nicht US-Präsident Donald Trump und wollen nicht die Klimaziele kündigen. Aber wir sehen, sie haben nicht unbedingt etwas gebracht. Wir wollen das System so nicht weiterlaufen lassen. Zum Beispiel brauchen wir dringend die Stromleitungen von Norden nach Süden. Die Unternehmen stehen bereit, aber die Umsetzung versackt im Moment in der Politik.
Als Bundesjustizministerin waren Sie politisch sehr konsequent. Sie traten zurück, weil sie entgegen der FDP-Basis die anlasslose Überwachung der Bürger ablehnten. Welche Haltung haben Sie nun etwa zur FDP-Idee vom digitalen Personalausweis für alle möglichen Alltagsanwendungen?
Leutheusser-Schnarrenberger: Digitalisierung und die Wahrung der Rechte des Einzelnen sind nicht an sich Gegensätze. Ein Problem entsteht, wenn es große Datensammlungen aller Bürger gibt, auf die sehr viele zu beliebigen Zeiten Zugriff haben. Wir brauchen klare Regeln und Verantwortlichkeiten und hohe Bußgelder. Dafür braucht es ein Digitalministerium.
An welchen Koalitionen würde sich denn die FDP auf Bundesebene beteiligen?
Leutheusser-Schnarrenberger: Unser Ziel ist die Rückkehr in den Bundestag. Ich will gar nicht spekulieren. Aber zwischen FDP, Grünen und Union gibt es sehr große Unterschiede. Was nicht passt, sollte man nicht zusammenzwingen. Kein Partner kann viel aufgeben, sonst lebt die Koalition nicht lange.
Berliner Forscher haben entdeckt, dass die Wahlprogramme von SPD und FPD etwa gleich lang sind und eine sehr ähnliche Wortwahl haben.
Leutheusser-Schnarrenberger: Du lieber Himmel, das halte ich für Zufall! Es zeigt doch nur, dass die FDP für Überraschungen gut ist.
Zur Person Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Jahrgang 1951) lebt seit Jahrzehnten in Südbayern. Sie war für die FDP zweimal als Justizministerin in der Bundesregierung (1992 bis 1996 und 2009 bis 2013). 1996 trat sie nach dem Mitgliederentscheid der FDP für den sogenannten großen Lauschangriff zurück, weil sie das als unvertretbaren Eingriff in die Bürgerrechte sah. Sie engagiert sich in vielen Gremien für Demokratie und Menschenrechte, unter anderem im Google-Beirat zum Recht auf Vergessen. bea