Laut Bundesärztekammer gab es im vergangenen Jahr bundesweit 11 000 Beschwerden über fehlerhafte ärztliche Diagnosen oder nachlässiges Arbeiten bei Behandlungen oder Operationen. Doch wo hört das medizinische Risiko auf, wo fängt der Fehler an? Der Würzburger Chirurg und Gutachter Dr. Michael Imhof hat einen Ratgeber für Patienten geschrieben.
Frage: 11 000 Beschwerden, fast 7400 Anträge zu mutmaßlichen Behandlungsfehlern – aber die Dunkelziffer soll weit höher sein. Von wie vielen Fällen gehen Sie aus?
Imhof: Nach vorsichtigen Schätzungen ist davon auszugehen, dass jeder fünfte bis zehnte Patient im Krankenhaus ein sogenanntes „unerwünschtes Ereignis“ erleidet. Eine niederländische Studie mit über 12 000 Patienten kam gerade zu dem Ergebnis, dass rund sechs Prozent der chirurgisch behandelten Patienten Opfer eines medizinischen Fehlers geworden sind. Knapp 70 Prozent dieser Fehler hatten zwar keine oder nur geringe Folgen für den Patienten. Ein Viertel erforderte aber eine Behandlung auf der Intensivstation, und in fast fünf Prozent erlitten die Patienten dauerhafte Schäden. Diese Zahlen entsprechen durchaus dem internationalen statistischen Durchschnitt.
Das klingt nach viel.
Imhof: Nach Schätzungen des Aktionsbündnisses Patientensicherheit erleidet in Deutschland jeder zehnte Patient ein „unerwünschtes Ereignis“. Bei fast 18 Millionen stationären Behandlungen jährlich muss man also von circa 1,5 Millionen solcher Zwischenfälle ausgehen. Die Gesellschaft für Qualitätsmanagement in der Gesundheitsversorgung hält 680 000 Behandlungsfehler in deutschen Krankenhäusern für realistisch. 14 Prozent der stationären Verweildauer sollen auf die Behandlung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen entfallen. Fehler gehen also richtig ins Geld. Und noch ein Punkt: Nach Schätzungen der Deutschen Krankenhausgesellschaft kommt es jährlich zu 700 000 im Krankenhaus erworbener Infektionen. Etwa 50 000 Patienten versterben an den Folgen dieser Infektionen, wobei annähernd die Hälfte davon vermeidbar sein soll. Das sind die Zahlen. Beunruhigende Zahlen.
In welchen Bereichen sind Behandlungsfehler besonders häufig?
Imhof: Naturgemäß in den operativen Fächern, beispielsweise der Chirurgie, der operativen Orthopädie, der Gynäkologie. Oft geht es um Vorwürfe und Klagen nach vermeintlich oder tatsächlich fehlerhaften Eingriffen an den Gelenken, nach prothetischem Hüft- oder Kniegelenksersatz, sehr oft auch um nicht oder zu spät erkannte postoperative Infektionen. Einen häufigen Anlass für Behandlungsfehlervorwürfe geben unter anderem auch laparoskopische Eingriffe, also „ohne großen Bauchschnitt“. Zum Beispiel die Behandlung von Leisten- und Bauchwandbrüchen mit dieser Technik, die Entfernung der Gallenblase oder Darmeingriffe.
Wurde früher weniger falsch gemacht, besser vertuscht – oder nehmen die Fehler einfach zu, weil die Behandlung komplizierter wird?
Imhof: In den Krankenhäusern ist in den vergangenen Jahren die Bettenkapazität stark um circa 17 Prozent abgebaut worden. Gleichzeitig hat die Zahl der stationären Behandlungen um 19 Prozent zugenommen. Das hat eine gewaltige Arbeitsverdichtung bei immer geringerem Personalschlüssel zur Folge. Zudem ist die Medizin ja immer komplexer geworden. Dies bedeutet gesetzmäßig, dass kritische und fehlerträchtige Situationen zunehmen.
Was heißt das?
Imhof: Häufig sind es Kommunikationsdefizite, die zu Fehlern führen. An der Behandlung eines Patienten sind oft mehrere Fachdisziplinen beteiligt. Und die Schnittstellen sind komplex, also störungsanfällig. Oder ein einfaches Beispiel aus der Praxis: Eine Schwester ruft von der Station im OP an, weil sich akute Probleme bei einem Patienten eingestellt haben und bittet dringend um Anweisungen vom Stationsarzt. Der steht gerade am OP-Tisch, ein OP-Pfleger hält ihm den Hörer ans Ohr. Der Arzt versteht die Schwester akustisch schlecht, er ist durch die laufende Operation abgelenkt und ordnet ein falsches Medikament an. Schon ist es passiert.
Der Patient muss die Fehler beweisen, oder?
Imhof: Er hat eine hohe Beweislast zu tragen und muss gleich zwei Hürden überspringen: Er muss erstens den Beweis erbringen, dass überhaupt ein Behandlungsfehler vorliegt, dass also geltende Standards verletzt wurden. Und er muss zweitens nachweisen, dass dieser Behandlungsfehler auch zu einem nachweisbaren Schaden des Patienten geführt hat. Diese Beweisführung ist schon deshalb schwierig, weil Krankheiten ja in der Regel mehrere Ursachen haben, weil Krankheitsverläufe nicht nach streng deterministischen Gesetzen ablaufen, weil Heilungsverläufe oft nicht berechenbar und weil sich gerade in der Krankheit ein grundlegendes chaotisches Grundprinzip unserer – oft leidbehafteten – Realität manifestiert. Auch die beste Behandlung kann keinen störungsfreien Heilungsverlauf garantieren.
Einen einfachen Rat für Patienten wird es nicht geben, sonst hätten Sie keinen Ratgeber geschrieben. Aber was sollte man unbedingt tun?
Imhof: Als wichtigsten Schritt kann man den Patienten nur empfehlen, dass sie offen und nicht beschuldigend auf ihren Arzt zugehen, das direkte Gespräch suchen und um Erklärung bitten: Warum ist es bei meiner Hüftprothesenoperation zu der Nervenverletzung gekommen, wegen der ich jetzt meinen Fuß nicht mehr heben kann? Was war der Grund für die Bauchfellentzündung nach meiner Gallenblasenoperation? Viele Patienten wollen an erster Stelle nur wissen, was vorgefallen war. Sie wollen die Umstände und Vorgänge verstehen können. Der Verdacht eines Behandlungsfehlers drängt sich ja erst im weiteren Verlauf auf. In einem offenen und in gegenseitigem Respekt geführten Gespräch können viele Unklarheiten ausgeräumt und aufkeimendes Misstrauen beseitigt werden.
Der Arzt kann mir ja viel erzählen.
Imhof: Man kann beispielsweise seinen Hausarzt, einen Arzt seines Vertrauens, zu Rate ziehen und ihn bitten, an diesem Gespräch teilzunehmen. Wichtig ist aber vor allem, dass man miteinander spricht. Die Erfahrung lehrt: Aus Sprachlosigkeit und abrupter Abwehr erwächst oft Misstrauen und Ablehnung. Auch Ärzte müssen lernen, wie sie sich in solchen Situationen richtig und angemessen verhalten. Schon im Studium sollten sich die jungen Ärzte mit der Frage auseinandersetzen, dass sie irgendwann einmal Fehler begehen werden.
Wie häufig ist der Verdacht falsch und unbegründet?
Imhof: Häufig. Nach den Statistiken der Gutachterkommissionen und der medizinischen Dienste sind die Vorwürfe in nur etwa 24 Prozent der Fälle begründet. Spezialisierte Anwälte berichten über höhere Prozentzahlen. Die Statistik lehrt uns auf der einen Seite, dass nur ein Bruchteil der Behandlungsfehler überhaupt ein Verfahren zur Folge hat. Andererseits ist aber durchaus mit Sorge eine zunehmende Anspruchshaltung einiger Patienten zu registrieren und eine mangelnde Bereitschaft, schicksalhafte komplikationsträchtige Heilungsverläufe zu akzeptieren, über die sie vor der Operation umfassend aufgeklärt worden waren. Niemand kann einen störungsfreien Heilverlauf garantieren. Medizin ist keine Reparaturwerkstatt. Nur die Politiker versprechen ihren Wählern: Gesundheit ist machbar!
Apropos Anspruchshaltung – geht's bei Behandlungsfehlern vor allem ums Geld? Oder um das Gestehen der Verantwortung, um die Entschuldigung?
Imhof: Viele Patienten würden nicht einen Anwalt aufsuchen, wenn sie in einem direkten Gespräch erfahren, dass ihr Arzt selbst ehrlich und tief betroffen ist. Patienten haben das Recht, dass sie ernst genommen werden. Auch heute noch müssen manche Ärzte, die sich für unfehlbar halten, lernen, dass der Patient ein gleichberechtigter Partner ist. Der Patient ist auf die Hilfe und Fürsorge des Arztes angewiesen. Aber das Arzt-Patienten-Verhältnis ist keine Einbahnstraße. Auch der Arzt ist bisweilen auf den Großmut des Patienten und seine Bereitschaft zu verzeihen angewiesen.
Dr. Michael Imhof
Der Mediziner, Jahrgang 1951, war viele Jahre lang Oberarzt an der Chirurgischen Uniklinik Würzburg und habilitierte über entzündliche Darmerkrankungen und neue Wege der chirurgischen Therapie. Heute ist Dr. Michael Imhof als medizinisch-wissenschaftlicher Berater und Gutachter auf dem Gebiet des Arzthaftungsrechtes mit Schwerpunkt operative Medizin tätig. Er beschäftigt sich mit ethisch-philosophischen Grundfragen der modernen Medizin, die er auch in seiner Malerei aufgreift. Gerade ist von Michael Imhof ein Ratgeber erschienen: Ärztliche Behandlungsfehler – Was tun? Ein Ratgeber für Patienten, Angehörige und medizinisches Personal. Schulz-Kirchner Verlag, 64 Seiten, 8,40 Euro. FOTOs thinkstock, MI