Es ist unstrittig: Die Gesundheit verantwortlicher Politiker ist von hohem öffentlichem Interesse. Es besteht ein Anspruch darauf, zu erfahren, ob sie im Krankheitsfall in der Lage sind, ihr Amt ordnungsgemäß fortzuführen. Doch bei der Berichterstattung darüber sollten Grenzen gewahrt bleiben.
"Unsägliches Titelbild"
Frau A.M. hat mir geschrieben, dass sie hoffe, dass viele Zuschriften zum „unsäglichen Titelbild“ vom 11. Juli 2019 (siehe oben) eintreffen. Es zeigt die Bauchpartie der Kanzlerin und ihre geschlossenen Fäuste. So bemühe sie sich, heißt es im Begleittext, „das Beben unter Kontrolle zu halten“. A.M. kritisiert: „Angela Merkel ist unbestritten eine der wichtigsten Personen in der aktuellen Politik <...> Dass auf der Titelseite nur ca. 30 cm ihrer nicht ganz schlanken Bauchpartie gezeigt werden, ist unwürdig (BILD-Zeitungsniveau) und hat nichts mit dem Informationsauftrag der Presse zu tun. Das müsste eigentlich jeder so empfinden, gleich welche politische Meinung er vertritt.“
Was sich die Kanzlerin gefallen lassen muss
Auch in einem
hieß es, das Foto schlage dem Fass den Boden aus. Wörtlich: „Muss man das Zittern der Kanzlerin auf die vorderste Seite setzen? Waren Sie, sehr geehrte Verantwortliche, noch nie angeschlagen und waren froh, dass es nicht gleich publik wurde?“Mich erreichten nur diese beiden Kritiken. Und ja, die Kanzlerin muss sich im Umgang mit ihrem Zittern Beiträge in Medien gefallen lassen, wie sie bei Menschen ohne Amt und Würden verboten sind, es sei denn, sie machen sie selbst öffentlich.
Keine Aufforderung zur Rücksichtslosigkeit
Am 11. Juli war allerdings auch im Innern der Zeitung mit eindeutigen Überschriften („Die Krankheit als Politikum/Politik ist ein Geschäft, das keine Rücksicht auf die Bedürfnisse des Spitzenpersonals nimmt“/Siehe auch Kopie am Ende des Beitrages) und mit Merkel-Bild auf das längst öffentlich gewordene Problem der Kanzlerin hingewiesen. Mit Beispielen (Seehofer, Kohl, Sarkozy usw.) war dargestellt, dass es immer, wenn es um die Gesundheit von Politikern ging, so gewesen ist. Das sollte jedoch nicht zur Rücksichtslosigkeit auffordern.
Würde der Persönlichkeit
Entscheidungen über Fotos, wie über jenes Titelbild, gehen redaktionelle Abwägungen voraus: Nicht politische, sondern ethische. Die hängen auch von persönlichen Einstellungen ab. Wie auch immer: Merkels Bauch auf dem Titel war überflüssig. Da stimme ich mit Kritikern überein. Der erklärende Beitrag im Inneren hat genug gesagt. Er wurde dem Informationsauftrag und öffentlichem Interesse gerecht. Das Bauch-Foto mit einer sensationslüstern wirkenden Frage („Wie geht es der Kanzlerin wirklich?“) spielt allerdings mit der Würde einer Persönlichkeit. Und die sollte auch bei einer Kanzlerin geschützt bleiben.
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Anton Sahlender, Leseranwalt. Siehe auch www.vdmo.de
