LESERANWALT

Leseranwalt: Warum der ganze Zorn aus einem geharnischten Leserbrief gestrichen wurde

Einem Leser ist eine Meldung zum Ärzteprotest zu klein. Dass die Redaktion seinen Leserbrief dazu stark verkürzt veröffentlicht, empört ihn noch mehr. Dabei hat er etwas übersehen.
Mit Wut geschrieben, wenn Ärger über einen Artikel nicht verraucht: Im aktuellen Fall eines Leserbriefes ging es um eine kleine Meldung zum Ärzteprotest.
Foto: Getty Images | Mit Wut geschrieben, wenn Ärger über einen Artikel nicht verraucht: Im aktuellen Fall eines Leserbriefes ging es um eine kleine Meldung zum Ärzteprotest.

Kürzungen in Leserbriefen bleiben für deren Absenderinnen und Absender ärgerlich. Gleich doppelt sah sich da jüngst ein Leser betroffen. Es begann mit der Ankündigung des Aktionstages der Ärzte in der Zeitung, die am 11. Oktober symbolisch ihre Praxen später öffneten. Dies war am 10. Oktober mit 23 Zeilen unter der Überschrift "Viele Praxen öffnen später" weit vorne im Bayernteil der Zeitung gemeldet. 

Ein geharnischter Leserbrief zu der kurzen Meldung 

Diese Ankündigung war dem Mann nicht genug. Das macht er in einem geharnischten Leserbrief deutlich. Das verstehe ich, er hat ja auch was zur Sache zu sagen. Aus seiner Anschrift geht hervor, dass er sich bestens auskennt. Die 23 Zeilen plus der Überschrift aber, die bezeichnet er in seinem Brief als "winzig" und als kurze "Bemerkung" auf einer "der letzten Seiten". Praktisch boykottiere die Zeitung damit die Ärzte-Aktion und enthalte sie den Patienten vor.

Davon leitet der Leser überdies eine geringe Wertschätzung der ambulanten hausärztlichen Versorgung in der Gesellschaft ab. Auch die Online-Meldung zum Ärzteprotest vermochte ihn nicht zu beruhigen.

Der zu lange Leserbrief war für die Redaktion gut zu kürzen

Da hat ihm wohl Zorn die Feder geführt. In seinem Leserbrief brachte der Absender aber nicht nur seinen Ärger zum Ausdruck, er machte auch zur lokalen Hausärzte-Problematik noch konkrete Sachaussagen. Da fiel es der Redaktion leicht, seinen Text auf diese zu beschränken und auf überzogene und falsche Bewertungen jener Meldung vom 10. Oktober ganz zu verzichten. Denn was der Mann wohl überhaupt übersehen hatte, war eine umfassende Ankündigung, die bereits in der Zeitung vom 4. Oktober gestanden hatte. Überschrift: "Protest der Ärzte und Psychotherapeuten" mit der konkreten Unterzeile: "Zahlreiche Praxen eröffnen am 10. Oktober später". 

Der Text des Leserbriefes war ohnehin zu lang für den dafür verfügbaren Platz in der Zeitung. Er konnte aus Sicht der Redaktion folglich gut gekürzt werden. Den Sachaussagen wurde Vorrang eingeräumt.

Die Kritik ist hart, aber bei der Redaktion angekommen

Ganz anders sieht das der engagierte Absender. Der Brief sei verfälscht, der eigentliche Inhalt verschleiert und das Wesentliche weggelassen, ließ er mich nach der gekürzten Veröffentlichung seiner Zuschrift wissen. Deren Botschaft, dass die Presse über den Ärzte-Protest nicht oder nicht ausreichend berichtet, sei verloren.

Die Redaktion habe nicht den Schneid das zu veröffentlichen. Er schreibt von "Riesenblamage" für die "sogenannte Pressefreiheit" und von "Grenzen der Neutralität", sichtbar durch die Streichungen in seinem Leserbrief. Das ist hart und stellenweise überzogen, aber angekommen in der Redaktion.

Auch Ärger der Menschen muss sichtbar werden

Über engagierte Leute, die ihren ganzen Zorn in Briefen – auch direkt an die Redaktion - bündeln, kann ich nicht urteilen, möchte ihnen stattdessen lieber helfen. Schließlich sind auch die Zeitungen Plattformen für demokratischen Diskurs, den der Journalistik-Professor Stephan Russ-Mohl schon als Essenz der Demokratie bezeichnet hat, der sich aber durch die sozialen Medien stark verändert hat. Dort bleiben Kontrahenten unsichtbar. Aber auch in Zeitungen, in denen Klarnamen gepflegt werden, muss Ärger der Menschen immer sichtbar werden können.

Wozu dann erst mühsam nach wohlausgewogenen Worten suchen? Lieber einfach mal frei von der Leber weg geschrieben, so wie es online gang und gebe ist. Das Ergebnis wird doch gerade durch Übertreibungen zur deutlichen Botschaft, welche die Journalistinnen und Journalisten empfangen - und wenn zutreffend - auch senden müssen. Wirklich?

Die Kontrolle der Journalisten schützt auch Leserbriefabsender

Zwischen dem Empfangen und dem Weiterverbreiten liegt allerdings wie ein Schwelle noch die Verantwortung der Redaktion, auch bei Leserbriefen. Die darf hier zwar im Sinne der Rechtsprechung und damit eines lebendigen demokratischen Diskurses möglichst großzügig ausgelegt werden und durchaus zornige Worte aus der Leserschaft passieren lassen, nicht aber jede haltlose Behauptung. Letzteres gilt trotz größerer Freiheiten für deren Online-Foren.

Diese Kontrolle durch Journalisten schützt auch Leserbriefabsender vor öffentlichen Fehlgriffen, vermeidet falsche Informationen für die Leserschaft und fruchtlose Diskussionen, die meist daraus entstehen.

Kurzum, den hier beschriebenen Leser hat die Redaktion ob seines kritischen Engagements zu Leistungskürzungen für Ärzte hat die Redaktion verstanden. Diese Botschaft ist bei ihr angekommen. Dem Leser habe ich das mitgeteilt. Zum besseren Verständnis aller, habe ich einige der aus seinem Leserbrief gekürzten Passagen, weil die ihm trotz allem wichtig sind, hier nachgeliefert. Ihn als Absender in diesem Kontext zu nennen, verbietet sich. Er bleibt Redaktionsgeheimnis.

Anton Sahlender, Leseranwalt

Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.

Leserbriefe sind zu einem der häufigsten Themen der Leseranwalt-Kolumnen geworden. Eine Auswahl und viele Erklärungen. Stichwort auch hier: Medienkompetenz.

2021: "Was bei Leserbriefkürzungen entscheidend ist"

2021: "Störung des demokratischen Diskurses"

2021: "Wenn heftige Leserkritik in Redaktionen auf der Strecke bleibt"

2021: "Aufpassen, wenn Wut die Feder geführt hat"

2019: "Das Missverständnis mit der Zensur"

2018: "Leserbriefe stärken den demokratischen Diskurs"

2015: "Ein Lebenselement: Die Leserbriefschreiber"

2012: "Wenn Jugendliche Leserbriefe schreiben, bedarf es nicht der Volljährigkeit, sondern der Einsichtsfähigkeit"

2008: "Die kleine Freundlichkeit zwischen forschen Forderungen"

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