"Dreißig Jahre lese ich nun diese Zeitung, dann kann ich doch wohl erwarten, dass …" So oder so ähnlich beginnen zuweilen Wünsche an die Redaktion. Leserinnen und Leser sind zweifellos Kunden dieser Zeitung. Das gilt ebenso für Nutzerinnen und Nutzer der Online-Angebote. Doch was bedeutet das? Kann die Kundschaft erwarten, dass Wünsche von der Redaktion zu erfüllen sind?
Egal ob langjährig oder erst seit kurzem, Leserinnen und Leser können mindestens erwarten, dass ihre Wünsche von der Redaktion wahrgenommen werden. Über diese professionelle Selbstverständlichkeit hinaus gibt es aber Grenzen. Es geht nämlich um mehr als um Allgemeine Geschäftsbedingungen oder um den Anspruch an das Unternehmen, die Zeitung zuverlässig geliefert zu bekommen und das Online-Angebot gut zu erreichen. Es geht um einen wesentlichen Teil der Pressefreiheit: Die Unabhängigkeit der Redaktion.
Eine Redaktion ist kein Konfektionsgeschäft
Deshalb ist die Redaktion eines Mediums kein Konfektionsgeschäft, in dem jeder nach seiner Fasson einkaufen kann. Tageszeitunghäuser bieten Leserinnen und Lesern sowie Werbetreibenden mit ihren journalistischen Produkten deren unabhängige Erstellung als Garantiesiegel an. Das funktioniert gleich einer Sicherung - auch gegenüber Zugriffen von "König Kunde". Somit lassen sich Wünsche eben nur dann erfüllen, wenn sie redaktionellen Grundsätzen und den Vorstellungen von Journalistinnen und Journalisten genügen.
Ohne Stimme ist die Leserschaft aber nicht. Das wäre unverantwortlich. Hinweise, Empfehlungen und Kritik sind willkommen, aber auch das von allen Menschen gleichermaßen. Redaktionen wollen für die ganze Gesellschaft offen sein. Ihre Leistung für die Demokratie geht über die eigene Leserschaft hinaus.
Leserinnen und Leser gewinnen zudem unbewusst viel Einfluss auf journalistische Angebote über ihr Leseverhalten. Das wird digital gemessen. Ein stark genutzter Beitrag zu einem Thema signalisiert der Redaktion großes Interesse. Man kann davon ausgehen, dass weitere Artikel dazu folgen.
Mehr als ein moralischer Anspruch
Mit der Pressefreiheit und der daran geknüpften Unabhängigkeit ist Redaktionen stellvertretend ein Menschenrecht anvertraut. Das betont auch die Organisation der Reporter ohne Grenzen. Menschen dürfen daraus durchaus den Anspruch ableiten, stets zu erfahren, nach welchen Grundsätzen Journalistinnen und Journalisten - auch im Einzelfall - mit diesen hohen Verfassungsgütern umgehen. Doch dieser mehr als moralische Anspruch kann gerade wegen der redaktionellen Unabhängigkeit nicht wirklich eingefordert werden.
Genau deshalb tut jede Redaktion gut daran, ihr Tun und Lassen, ihre Vorstellungen und ihre Quellen so gut es geht freiwillig durchschaubar zu machen. Dabei ist Ehrlichkeit angesagt. Die schafft Vertrauen. Solche Transparenz sollten Journalistinnen und Journalisten eben nicht nur von der Politik fordern. Kurzum: Niemand kann sich darauf ausruhen, dass es Leute gibt, die diese Zeitung seit 30 Jahren lesen.
Diskussionsangebot der Chefredaktion der Main-Post
"Treffpunkt Redaktion" heißt ein digitales Transparenz-Angebot, das die Chefredaktion der Main-Post Interessierten seit kurzem macht. Holen Sie sich per E-Mail an red.chefredaktion@mainpost.de den Teilnahme-Link. Die nächste Diskussion findet am Dienstag, 26. Oktober, von 17 bis 18 Uhr statt - verschaffen Sie sich selbst Transparenz!
Anton Sahlender, Leseranwalt
Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.
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