Der Staatsfeind Nummer eins trug rote Trainingsshorts und ein olivgrünes T-Shirt. Langsam schritt er – die Hände hinter dem Kopf – rückwärts an einem gepanzerten Polizeifahrzeug entlang, während ihn ein halbes Dutzend schwer bewaffnete FBI-Beamte im Visier hatten. Die bizarren Szenen aus dem 4000-Seelen-Kaff North Dighton im Südosten von Massachusetts wurden am Donnerstag live im Fernsehen übertragen. Einmal fuhr die Kamera nah an den Verdächtigen heran und zeigte die Umrisse eines Milchgesichts.
Kurz darauf trat in Washington Justizminister Merrick Garland vor die Presse. „Heute hat das Justizministerium im Zusammenhang mit der unbefugten Entfernung, Aufbewahrung und Übermittlung von Verschlusssachen eine Festnahme vorgenommen“, berichtete der oberste Ankläger der USA. Der Verdächtige heiße Jack Douglas Teixeira und sei Angehöriger der Nationalgarde von Massachusetts.
Der 21-Jährige hatte den drittniedrigsten Dienstrang bei der Nationalgarde inne
Ein 21-jähriger Militärangehöriger im drittniedrigsten Dienstgrad eines „Airman First Class“ (vergleichbar mit einem deutschen Obergefreiten) also ist nach Erkenntnissen der amerikanischen Behörden verantwortlich für das massive Geheimdokumenten-Leck, das den Umfang des amerikanischen Wissens über höchst geheime russische Kriegsplanungen in der Ukraine offenlegt, brisante Informationen über Nato-Verbündete ans Tageslicht bringt und das Pentagon bis auf die Knochen blamiert. Private Fotos zeigen einen eher teenagerhaft wirkenden jungen Mann in blauer Uniform. Ein politisch motivierter Whistleblower soll er nach Darstellung seiner Freunde nicht sein. Eher ein Wichtigtuer und Waffennarr.
Schon vor der Festnahme hatten US-Medien die Geschichte eines ominösen „O.G.“ (Original Gangster) enthüllt, der in einer Chatgruppe mit teils minderjährigen Video-Gamern höchst sensible militärische Geheimnisse verbreitete. Im Oktober 2022 soll er begonnen haben, aus vertraulichen Unterlagen über den Ukraine-Krieg zu zitieren. Als ihm die Gruppenmitglieder nicht glaubten, postete er Fotos von Ausdrucken täglicher Geheimdienst-Briefings, Lagepläne aus dem Kriegsgebiet und vertraulichste Einschätzungen über die Schlagkraft des russischen Militärs.

Jack Teixeira, davon sind die US-Behörden überzeugt, soll dieser „O.G.“ sein. Erst im Sommer 2020 hatte der junge Mann die Schule verlassen, um sich bei der Nationalgarde zu bewerben. Dort war er zuletzt in einer Einheit für Cyber-Kommunikation tätig. Privat soll er mit 20 oder 30 Gleichgesinnten während der Isolation der Corona-Pandemie die Chatgruppe „Thug Shaker Central“ gegründet haben. Auf der bei Videospielern beliebten, aber auch von Rechtsradikalen genutzten Plattform Discord tauschte man sich über Kriegsspiele, Waffen und Militärausrüstung aus.
Teixeira galt als inoffizieller Anführer der Gruppe. Sein Weltbild scheint krude zu sein. Auf einem Video, das die Washington Post veröffentlichte, stößt er rassistische und antisemitische Flüche aus, bevor er mit dem Gewehr losfeuert. Jedenfalls soll er kritisch gegenüber der Regierung und dem Ukraine-Krieg eingestellt und gläubiger Katholik sein. Er habe „informieren und beeindrucken“ wollen, sagte ein anderes Mitglied der Chatgruppe. 350 Dokumente soll er veröffentlicht haben.
Die amerikanische Öffentlichkeit ist fassungslos
Nun ist die amerikanische Öffentlichkeit fassungslos. Wie konnte ein Soldat mit Mannschaftsdienstgrad Zugang zu teils hochgeheimen Informationen haben? Eine Erklärung ist, dass zehntausende Militärangehörige die erforderliche Sicherheitsstufe besitzen. „Wir vertrauen unseren Soldaten eine Menge Verantwortung in jungem Alter an“, sagte Pentagon-Sprecher Patrick Ryder. Ein wenig hilflos wirkte der Hinweis des Generals, dass jeder Soldat eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben müsse. Alarmierend ist auch, dass dem Pentagon das Datenleck offenbar erst Anfang des Monats bekannt wurde, obwohl die sensiblen Informationen seit Monaten im Netz herumgeisterten.
Verschwörungsideologen laufen jetzt zur Höchstform auf. Die rechtsextreme Abgeordnete Marjorie Taylor Greene schaffte es, innerhalb weniger Stunden den verdächtigen Teixeira zunächst zum mutigen Whistleblower und dann zu einem Phantom der Biden-Regierung zu machen. „Jack Teixeira ist weiß, männlich, christlich und gegen den Krieg. (…) Er hat die Wahrheit über die Truppen in der Ukraine gesagt. Ihr solltet euch fragen, wer der wirkliche Feind ist“, twitterte die Republikanerin zunächst.
Kurz darauf unkte sie, es sei höchst unwahrscheinlich, dass die unfähige Biden-Regierung „auf wundersame Weise“ die undichte Stelle gefunden habe. „Das sind dieselben Leute, die euch eure Waffen wegnehmen wollen“, mahnte sie: „Denkt darüber nach!“