Der Duft des Parfums der ersten großen Liebe, der Kuschelteddy aus der Kindheit, zauberhafte Bilder von verschneiten Weihnachtstagen anno dazumal – man möchte aufseufzen vor Sehnsucht nach all jenen Tagen, in denen das Leben um so vieles leichter schien als heute. Nostalgie eben – harmlos und schön. Von wegen! Im 17. und 18. Jahrhundert galt Nostalgie als schwere Krankheit, stand für unerträgliches Heimweh, unter dem auch Soldaten litten. Napoleon etwa sorgte sich um das Leben seines Bruders, der seelisch und infolgedessen auch körperlich an „Nostalgie“ fast zugrunde ging. Wir haben mit Daniel Rettig, Autor des gerade erschienenen Buches „Die guten alten Zeiten“ gesprochen.
Frage: Herr Rettig, warum rühren uns nostalgische Fotos so an?
Daniel Rettig: Weil sie Erinnerungen wecken. Und Erinnerungen sind eben meistens positiv.
Wenn die Sehnsucht nach vergangenen Tagen so stark ist, dass sie fast körperlich wehtut, was sagt das über einen Menschen aus?
Rettig: Ich glaube nicht, dass Nostalgie körperlich wehtut. Vielmehr ist Nostalgie ein bittersüßes Gefühl. Denn sie beinhaltet einerseits schöne Erinnerungen, aber andererseits die Erkenntnis, dass diese Zeit nie wiederkommt.
Sie schildern in Ihrem Buch auch Fälle aus dem 17. und 18. Jahrhundert, in denen Nostalgie im Sinne von Heimweh als schwere Krankheit galt, an der Menschen starben. Gibt es so etwas heute auch noch?
Rettig: Nein, inzwischen ist klar: Nostalgie ist kein Anlass zur Sorge, sondern Grund zur Freude.
Viele Soldaten litten an starkem Heimweh – machen uns Krisenzeiten nostalgisch?
Rettig: Ja, definitiv. Je unsicherer und chaotischer die Gegenwart, desto größer das Verlangen, gedanklich zumindest ab und an in die Vergangenheit abzutauchen. Sie kennen das sicher: Viele Menschen glauben, dass die Zeit so schnell vergeht, dass das Leben hektisch ist. Hinzu kommen Ereignisse wie Eurokrise oder Energiewende, die die Unsicherheit vergrößern – und den Charme der Vergangenheit vergrößern.
„Schöne Erinnerungen tauchen ständig irgendwo auf, ohne dass wir bewusst etwas dafür tun.“
Daniel Rettig, Journalist und Buchautor
Die Sehnsucht nach alten Zeiten kennt jeder – wann und wo treten solche emotionalen Anfälle vorzugsweise auf?
Rettig: Die Anlässe sind ganz verschieden. Aber ich würde schon sagen, dass die Weihnachtszeit eine besonders nostalgische Zeit ist. Draußen wird es kälter, wir realisieren, dass schon wieder ein Jahr vorbei ist, wir besuchen das Elternhaus und denken fast automatisch an die Kindheit. Wie schon Loriot sagte: Früher war mehr Lametta. Aber ansonsten kann eigentlich alles in unserer Umgebung Nostalgie auslösen. Der Geruch eines Lebensmittels, ein Lied im Radio, der Anblick eines Gegenstands – sie alle können Erinnerungen auslösen. Und damit Nostalgie.
Warum macht uns gerade Musik so nostalgisch?
Rettig: Wir hören Musik oft in emotionalen Situationen – auf Partys, bei Abschlussbällen, mit dem Partner auf dem Sofa. Das heißt also: Der Moment der Einspeicherung ist emotional – und Emotionen versetzen das Gehirn in eine Art Alarmzustand. Dann prägen sich Erinnerungen besonders gut ein. Und wenn wir ein Lied nach einiger Zeit nun wieder hören, wird die Erinnerung fast automatisch geweckt.
Was ist eigentlich der Unterschied zwischen sentimental und nostalgisch?
Rettig: Sentimentalität bedeutet ja einfach so etwas wie „gefühlsbetont“ oder rührselig. Nostalgie beinhaltet aber zusätzlich den Blick zurück in die Vergangenheit – sowie die Erkenntnis, dass die Zeit nicht wiederkommt.
Sollte man sich der bittersüßen Sehnsucht nach Gefühlen und Erlebnissen der Vergangenheit hingeben?
Rettig: Ja, unbedingt! Ich sage nicht: Lebt nur in der Vergangenheit. Aber schöne Erinnerungen tauchen ja ohnehin ständig auf, ohne dass wir bewusst etwas dafür tun. Und zumindest kurzzeitig können sie uns ein Lächeln ins Gesicht zaubern.
Ist es normal, sich mit dem Parfum der ersten Liebe einzusprühen und die gemeinsamen Lieder von damals zu hören?
Rettig: Dazu kann und will ich nichts sagen. Aber etwas schräg klingt das schon!
Ab wann läuft man Gefahr, nicht mehr im Hier und Jetzt zu agieren, sondern sich eine eigene Welt zu schaffen, die es so nicht mehr gibt?
Rettig: Natürlich gilt der alte Spruch von Paracelsus: „Allein die Menge macht das Gift“, schrieb der Schweizer Arzt im 15. Jahrhundert. Die Vergangenheit sollte unser Leben niemals dominieren. Wir müssen uns bewusst sein, dass sie nicht wiederkommt. Das Schwelgen in Erinnerung darf nie einziges Ziel unserer Existenz sein. Aber ab und zu in Erinnerungen zu schwelgen, hat noch niemandem geschadet.
Warum sind wir jetzt in der Adventszeit so verrückt nach dem Duft von Lebkuchen, Zimt, Apfelkuchen und Tannenzweigen? Wir schleppen ja sogar Kerzen mit genau diesen Düften mit nach Hause – welche Rolle spielt denn der Geruchssinn für die Nostalgie?
Rettig: Eine sehr große! Das funktioniert ähnlich wie bei Musik. Der Geruchssinn ist eng verknüpft mit Erinnerungen und Gefühlen, und zwar wortwörtlich. Denn der Riechkolben liegt zum einen in der Nähe des limbischen Systems. Das ist vor allem dafür zuständig, Informationen mit Gefühlen zu verknüpfen. Zum anderen hat der Geruchssinn im Gegensatz zu anderen Wahrnehmungen eine Sonderstellung. Wenn wir etwas sehen, fühlen, schmecken oder hören, werden diese Eindrücke zunächst vom Thalamus geprüft. Erst dann wandern sie weiter in die Hirnrinde. Beim Riechen ist das nicht der Fall. Denn der Riechkolben sitzt in der Nähe des Hippocampus, der für Erinnerungen zuständig ist. Die Folge: Gerüche geraten ungefiltert ins limbische System. Sie verbinden sich, bildlich gesprochen, unmittelbar mit Gefühlen und Erinnerungen und haben deshalb eine viel bessere Chance, im Gedächtnis zu bleiben.
Warum hängen wir so sehr an alten Gegenständen, die in der Familie immer weitergegeben werden?
Rettig: Weil sie eine Brücke bilden zu unserer Vergangenheit. Briefe und Tagebücher dokumentieren, was unsere Verwandten gestern dachten, fühlten, sagten und erlebten. Erbstücke wie Besteck, Kleidungsstücke, Porzellan, Möbel oder Schmuck verbinden uns mit unseren Vorfahren. Fotoalben erzählen Geschichten von damals. Mit anderen Worten: Erinnerungsobjekte erlauben uns die mentale Rückkehr.
Welche Dinge würden Sie mitnehmen, wenn ein Feuer droht, alles zu zerstören?
Rettig: Ein Exemplar meines Buchs. Mein altes Kuscheltier: eine Puppe der Fernsehserie „Alf“. Und meinen Laptop und mein iPhone, weil dort viele Erinnerungsfotos abgespeichert sind.
Daniel Rettig
Der Autor, Jahrgang 1981, absolvierte die Kölner Journalistenschule und studierte parallel dazu Volkswirtschaft und Politik. Seit 2008 arbeitet er als Redakteur bei der „WirtschaftsWoche“ im Ressort Management & Erfolg. In seinem Blog alltagsforschung.de schreibt Rettig über Psychologie im Beruf und Privatleben. „Die guten alten Zeiten“ (288 Seiten) ist sein zweites Buch nach „Ich denke, also spinn ich“, das er zusammen mit Jochen Mai geschrieben hat und das ebenfalls im Deutschen Taschenbuchverlag erschienen ist. Wer wissen will, was hinter dem Begriff Nostalgie steckt und welche Macht sie hat, findet in Rettigs Buch fundierte Antworten. Der Autor teilt seine Erkenntnisse in vier Kapitel auf: Geschichte, Psychologie, Neurologie und Ökonomie. Und eines wird schnell klar: Nostalgie beeinflusst Selbstwert- und Gemeinschaftsgefühl, Kaufentscheidungen und Erinnerungen. Sie begleitet uns von Kindheit an. Und: Sie war mal richtig gefährlich für Leib und Seele. Doch in überschaubaren Dosen genossen, gilt sie heute vorwiegend als schönes Gefühl.