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WÜRZBURG: „Das Ausmaß der Fluchtbewegung hat mich überrascht“

WÜRZBURG

„Das Ausmaß der Fluchtbewegung hat mich überrascht“

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    Rudolf Decker (83) setzt sich unermüdlich für die Verständigung zwischen Afrika und Europa ein.
    Rudolf Decker (83) setzt sich unermüdlich für die Verständigung zwischen Afrika und Europa ein. Foto: Foto: Kurz

    Über 100mal hat er seit 1982 den afrikanischen Kontinent bereist und nicht nur in Gesprächen mit Staatsführern viel gelernt: Der langjährige CDU-Landtagsabgeordnete Rudolf Decker (83) hat die Menschen im Blick, auch aus christlicher Überzeugung.

    Er ist Vorsitzender der Stiftung für Grundwerte und Völkerverständigung. In seinem neuen Buch „Europa und Afrika“ beschäftigt sich der gelernte Maurer und diplomierte Bauingenieur aus Böblingen mit aktuellen Krisen und künftigen Beziehungen zwischen beiden Kontinenten.

    Frage: Herr Decker, wie sehr hat Sie die Flüchtlingskrise im Mittelmeer zu ihrem Buch „Europa und Afrika“ motiviert?

    Rudolf Decker: Ganz entscheidend. Ich pflege seit vielen Jahren intensive Kontakte zu Führungspersönlichkeiten in Afrika. Als tägliche diese Schreckensnachrichten von Lampedusa kamen – haben mich eine ganze Reihe meiner Freunde angerufen und gefragt: Was ist denn da eigentlich los in Afrika? Vor dem Hintergrund dieser Fragen ist das Buch entstanden.

    Hat Sie die Flüchtlingsentwicklung überrascht?

    Decker: Ja und nein. Ich wusste natürlich über die demografische Entwicklung und die Notlagen in Afrika Bescheid. Aber das Ausmaß der Fluchtbewegung hat mich dann selbst überrascht.

    Bevölkerung Afrikas verdoppelt sich

    Entwicklungsminister Gerhard Müller hat zuletzt von möglichen 100 Millionen Flüchtlingen aus Afrika gesprochen. Sind solche Zahlen übertrieben?

    Decker: Nein. Allein in den nächsten 30 Jahren verdoppelt sich die afrikanische Bevölkerung von 1,2 auf 2,4 Milliarden Menschen. In fast allen Ländern gibt es keine ausreichenden Beschäftigungs- und Existenzmöglichkeiten für diese Menschen. Das Potenzial an möglichen Flüchtlingen ist unglaublich groß.

    Halten Sie das Bevölkerungswachstum für eines der zentralen, wenn nicht gar das zentrale Problem für Afrikas Entwicklung?

    Decker: Ja, es ist eines der zentralen Probleme. Immer wieder höre ich von führenden afrikanischen Politikern: Wir können unser Land noch so gut entwickeln, aber wir halten mit der Bevölkerungszunahme nicht Schritt.

    Sie haben persönlich einen sehr starken Gottesbezug. Beim Thema Bevölkerungsentwicklung dürften es Ihnen die Päpste vor Franziskus mit ihrer restriktiven Haltung zur Verhütung nicht leicht gemacht haben…

    Decker: Da haben Sie Recht, hier habe ich einige negative Erfahrungen gemacht und ich bin über die offenere Linie von Papst Franziskus froh. Klar ist: Bei mehr Zivilisation, Rechtsstaat und wirtschaftlicher Sicherheit ist die Geburtenrate rückläufig. Für viele Menschen in Afrika sind eigene Kinder auch die einzige Altersvorsorge, weil es keine Rentenkasse gibt.

    Abkehr von der klassischen Entwicklungspolitik

    Wie ist die Situation zu verbessern?

    Decker: Wir müssen zu einer neuen Entwicklungspolitik kommen. Auch die Bundeskanzlerin hat nach dem G20-Gipfel verlautbart, dass die klassische Entwicklungspolitik nicht mehr ausreiche. Damit komme Afrika nicht weiter. Viel wichtiger ist, dass in diesen Ländern Rechtsstaat, Sozialstaat und Demokratie etabliert werden. Und die Entwicklungspolitik muss sich auf diese neuen Ziele konzentrieren.

    Die Beschlüsse des G 20-Gipfels, der „Compact with Africa“, nützen wenigen ausgewählten, eher fortschrittlichen Staaten in Afrika. Wirklich armen Ländern helfen sie wenig…

    Decker: Genau so ist es. Wir müssen in Afrika grundsätzlich umdenken, dürfen vor allem die armen, oft schlecht regierten Länder nicht ausklammern.

    Die 54 Staaten in Afrika entwickeln sich sehr unterschiedlich. Woran fehlt es hauptsächlich in den Krisenländern?

    Decker: Es fehlt an Rechtsstaat und Sozialstaat. 40 Prozent der Menschen südlich der Sahara leben unterhalb der Armutsgrenze von 1,7 Euro pro Tag. In den meisten Ländern Afrikas gibt es keinen funktionierenden Sozialstaat – keine Arbeitslosenversicherung, keine Altersversorgung, keine Krankenversicherung. Da helfen keine noch so guten einzelnen Projekte. In den letzten 50 Jahren sind mehr als 600 Milliarden Dollar an Entwicklungshilfe nach Afrika geflossen. Entscheidend weitergeholfen hat das nicht.

    Kooperation auch mit schwierigen Ländern

    Also Entwicklungshilfe stoppen – so wie es manche afrikanische Intellektuellen fordern – oder die Qualität ändern?

    Decker: Nein, ein Stopp der Hilfe für Afrika auf gar keinen Fall. Wenn wir uns hüten wollen vor einer weltweiten Auseinandersetzung zwischen dem armen Afrika und dem reichen Europa, muss Hilfe stattfinden. Aber die klassische Entwicklungshilfe bringt Afrika nicht weiter.

    Was aber dann? Gut geführte Länder belohnen, die anderen abstrafen?

    Decker: Es sind ja nach unseren Maßstäben nur wenige Länder in Afrika für unsere demokratischen Ansprüche salonfähig, die anderen sind es nicht. Von dort aber kommen die meisten Flüchtlinge. Man müsste also aus den schlecht regierten Ländern gut regierte machen können… Dieser Weg ist natürlich nicht so einfach.

    Haben Sie Verständnis dafür, dass Deutschland und die EU zur Grenzsicherung und Flüchtlingsabwehr auch mit Ländern wie Eritrea oder dem Sudan zusammenarbeitet?

    Decker: Das ist meine große Grundforderung: Wir sollten die Philosophie aufgeben, mit einigen Staaten zusammenzuarbeiten und mit anderen nicht. Gerade die Staatschefs der problematischen Länder müssten regelmäßig zu uns eingeladen, regelmäßig zur Rechenschaft gezogen werden. Da sollte sich die Bundeskanzlerin einschalten, Klartext reden und Fortschritte überprüfen. Da muss ein gründliches Umdenken in der Außenpolitik gegenüber diesen Ländern erfolgen.

    Enger Kontakt zu Kriegsverbrecher al-Bashir

    Sie selbst haben ja auch mit Leuten wie Siad Barre in Somalia und anderen Diktatoren gesprochen…

    Decker: Ja, auch mit al-Bashir, dem Präsidenten des Sudan, stehe ich in engem Kontakt. Er wird vom Internationalen Strafgerichtshof wegen Kriegsverbrechen gesucht.

    Muss man also auch mit Schurken reden?

    Decker: Absolut! Reden in der Erwartung, dass daraus rechtsstaatliche und sozialstaatliche Erfolge resultieren.

    In der Flüchtlingskrise ist viel von europäischer Verantwortung die Rede. Wo ist denn eigentlich Afrikas Stimme? Man hört wenig.

    Decker: Ja, der Hinweis ist berechtigt. Leider ist die Afrikanische Union kein vergleichbares machtpolitisches Instrument wie die EU.

    Trotzdem bezeichnen Sie die Afrikanische Union als „unverzichtbaren Partner einer gemeinschaftlichen Entwicklung“. Wie kann das funktionieren?

    Decker: Das ist natürlich auch ein Stück Vision. Aber nehmen Sie zum Beispiel Libyen. Es ist das Durchgangsland mit den meisten Flüchtlingen aus Afrika. Das Regime ist alles andere als brauchbar – aber es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als zusammenzuarbeiten. Sonst können Sie Libyen gleich zu einer Republik der Schlepper ausrufen.

    Für Auffanglager mit humanitären Standards

    Was halten Sie von Auffanglagern für Flüchtlinge in Ländern wie Libyen?

    Decker: Grundsätzlich halte ich viel davon. Allerdings müssen die humanitären Voraussetzungen europäischen Standards entsprechen. Dann sind solche Auffanglager die deutlich bessere Option als die Anlandung von zigtausenden Flüchtlingen in Italien.

    Aber sind dafür die politischen Strukturen in Libyen stabil genug?

    Decker: Das ist ein wunder Punkt und eine meiner Forderungen. In Ländern wie Somalia, Südsudan oder Eritrea müssen die deutschen Botschaften funktionieren. In diesen Ländern finden die größten humanitären Krisen statt. Die Hilfsorganisationen brauchen den Rückhalt einer Botschaft. Sie muss zur Not militärisch bewacht werden.

    Durch Digitalisierung lockt europäischer Wohlstand

    Wird Europa mit seinem Wohlstand nicht immer ein Magnet sein für Menschen ohne Lebensperspektive?

    Decker: Aber natürlich. Durch die elektronische und digitale Revolution hat sich in den vergangenen Jahren sehr viel verändert. Durch die rasante Ausbreitung von Fernsehen und Mobilfunk wissen Afrikaner nun genau über die Verhältnisse in Europa Bescheid. Sie erfahren auch, dass wir uns um Flüchtlinge kümmern. Das verstärkt die Anziehungskraft noch.

    Vor fast 30 Jahren hat die BBC mit dem Film „Der Marsch“ eine Vision skizziert: Wegen der Klimaveränderung setzt eine Völkerwanderung von Afrika nach Europa ein. Kommen wir diesem Szenario immer näher?

    Decker: Mein Buch soll auch ein Weckruf sein. Wir können jetzt noch gestaltend auf die Zukunft einwirken. Je länger wir warten, desto größer wird das Problem. Aus „Hilfe“ könnte „Hilflosigkeit“ werden.

    Am Donnerstag, 17. August, stellt Rudolf Decker sein Buch „Europa und Afrika – Von der Krise zu einer gemeinsamen Zukunft der Nachbarkontinente“ in Würzburg vor – von 18 bis 19.30 Uhr im Max-Dauthendey-Saal (Falkenhaus). Als Veranstalter bittet die SPD um Anmeldung: rosemarie.lang@spd.de

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