Wenn Gerhard Bechtoldt über das Lebenswerte, das Einzigartige in Grünau erzählen soll, dann fallen ihm die Natur ein und der Sport. Grünau ist ein grüner Ort. Viel Wald. Viel Wasser. Dann aber wird's schon eng mit den Argumenten. 5500 Einwohner hat dieser Stadtteil im Südosten von Berlin, und Bechtoldt ist der Sprecher der Bürgerinitiative „Zukunft in Grünau“. Zukunft ist wichtig, findet Bechtoldt, denn das Einzige, was derzeit noch ein wenig schimmert in Grünau ist die Vergangenheit. Das Dorf wurde einst in der Mitte des 18. Jahrhunderts vom Alten Fritz gegründet, während der Olympischen Spiele von 1936 erlangte es dann vorübergehende Bekanntheit als Austragungsstätte der Ruderwettbewerbe. Die Regattastrecke am Langen See gibt es auch heute noch,„aber“, sagt Gerhard Bechtoldt, „in den vergangenen 20 Jahren hat sich hier doch nichts bewegt“. Und jetzt auch noch die Geschichte mit dem Wolf.
Thomas Lurz hat den Wolf nach Grünau gebracht, und zunächst waren die Männer und Frauen von der Zukunftsinitiative ganz schön sauer darüber. Der Würzburger Sportler, Rekordweltmeister im Langstreckenschwimmen, hatte seine Kritik am Austragungsort der Europameisterschaft in der nächsten Woche im Interview mit der „Main-Post“ in klare Worte gepackt: „In Grünau schauen uns nur die Wölfe zu.“ Lurz ärgert sich darüber, dass die Wettbewerbe über fünf, zehn und 25 Kilometer nicht in der Spree im Regierungsviertel oder am publikumsträchtigen Wannsee stattfinden, sondern eben in Grünau, dort, wohin sich kaum jemand verirrt. Als die Nachrichtenagenturen dpa und sid das Interview auswerteten und verbreiteten, waren die Wölfe aus Grünau plötzlich ein bundesweites Thema. Gerade mit Wölfen aber sieht die Zukunft in Grünau ziemlich grau aus, dachte sich Gerhard Bechtoldt und schrieb eine E-Mail an Thomas Lurz. „Die Leute im Bezirk sind etwas betrübt, was den negativen Tenor Ihres Interviews angeht“, heißt es da, und weiter: „Auch 2014 werden Sie hier vermutlich nichts von Wölfen bemerken, es könnten Ihnen höchstens ein paar halb zahme Wildschweine neben der Schwimmstrecke im Berliner Forst begegnen.“
Auch an den Deutschen Schwimm-Verband DSV und dessen Generalsekretär Jürgen Fornhoff schrieb die Initiative. Von „harscher Kritik“ ist da die Rede und davon, dass durch die Lurz-Äußerung dieser „voll erschlossene Hauptstadt-Lebensraum gedanklich in die Wildnis von z.B. Sibirien versetzt wird“. Grünaus Streiter machen in den Zeilen auch darauf aufmerksam, dass Besucherarmut in diesem Stadtteil nicht zwangsläufig sein muss. Das Berliner Wassersportfest, der jährliche Höhepunkt im Vereinsleben von „Zukunft in Grünau“, habe erst im Mai mit „12 000 zufriedenen Zuschauern“ aufgewartet.
So viele werden es nicht werden in der nächsten Woche, wenn Europas beste Freiwasserschwimmer im Langen See um Medaillen kämpfen. „Hier weiß doch keiner, dass das stattfindet“, sagt Bechtoldt. Kein Plakat, keine Werbung habe er gesehen. „Die Vermarktung hat der DSV wohl nicht richtig angepackt, aber das sind eben auch nur Funktionäre.“ Was er sagen will: Job nach Vorschrift. Aber als der Grünauer bemerkt, welche Wellen der Satz mit den Wölfen schlägt, dass die „B.Z.“ berichtet und die „FAZ“, das ZDF und der Rundfunk Berlin-Brandenburg, da erkennt Gerhard Bechtoldt die Chance. In einer internen Mail an seine Zukunftsfreunde schreibt er erfreut davon, „dass wir der Meinung sind, mit der ,Wölfe-Story' schnell eine schöne und positive Werbeaktion für unsere Region organisieren zu können“. Denn: „Wölfe beim Sport in der Hauptstadt interessiert die Leute. Eine solche Steilvorlage kommt nicht alle Tage.“
Im Gespräch mit dieser Zeitung ist Bechtoldt gar nicht mehr ärgerlich auf Thomas Lurz: „Eigentlich ist der Satz super. Er trifft den Kern des Problems. Wir sind eine zurückgebliebene Region, die dem Herrn Lurz jetzt auch noch die Zuschauerzahlen versaut.“ Er schmunzelt dabei. Der Schwimmer des SV 05 Würzburg sagt, es liege ihm fern, den Stadtteil verunglimpfen zu wollen. „Ich finde es klasse, wie sich die Leute dort engagieren“, so Thomas Lurz. Aber er wollte eben seinen Ärger darüber verdeutlichen, dass erstmals seit zwölf Jahren wieder eine bedeutende Meisterschaft in Deutschland stattfindet, „und dann wird das Langstreckenschwimmen versteckt. Wir müssen unseren Sport dahin bringen, wo die Menschen sind. Das ist keine Kritik an Grünau, sondern an den Vermarktern im DSV. Es ist schade für unseren Sport“.
Wie geht es weiter mit Grünau? Wie mit den Wölfen? Am Donnerstagabend gab es ein Mitgliedertreffen der Zukunftsgestalter im traditionsreichen Kaffeehaus Liebig, 14 Männer und Frauen waren anwesend. Es wurde fleißig diskutiert und am Ende ein Satz formuliert, der ungefähr so lautet: „Die Bedenken von Herrn Lurz, was die erhofften Zuschauerzahlen angeht, sind nicht unberechtigt.“ Gerhard Bechtoldt sagt, er wird sich die Wettkämpfe aus Interesse ansehen. Vielleicht bringt er noch ein paar Mitglieder mit. Eine Einladung an Thomas Lurz wird er auch übergeben: Grünau würde sich freuen, wenn der erfolgreiche Schwimmer Stargast beim Wassersportfest 2015 werden würde.
In der Nähe Berlins sind übrigens in diesem Jahr tatsächlich zwei Wölfe aufgetaucht.
Sie wurden überfahren.