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FRANKFURT: Der typische Hesse

FRANKFURT

Der typische Hesse

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    ILLUSTRATION - Zwei mit Apfelwein gefüllte Gläser und ein Bembel stehen am 04.08.2012 auf dem Römerberg in Frankfurt am Main auf dem Tisch einer Gaststätte.   Foto: Arne Dedert/dpa    (zu lhe-BLICKPUNKT vom 24.08.2014: Apfelwein als «Herzensangelegenheit»: Regionaltrend funktioniert) +++(c) dpa - Bildfunk+++ | Verwendung weltweit
    ILLUSTRATION - Zwei mit Apfelwein gefüllte Gläser und ein Bembel stehen am 04.08.2012 auf dem Römerberg in Frankfurt am Main auf dem Tisch einer Gaststätte. Foto: Arne Dedert/dpa (zu lhe-BLICKPUNKT vom 24.08.2014: Apfelwein als «Herzensangelegenheit»: Regionaltrend funktioniert) +++(c) dpa - Bildfunk+++ | Verwendung weltweit Foto: Arne Dedert (dpa)

    Der Hesse an sich, zumal der Durchschnittshesse aus dem Rhein-Main-Gebiet, hat?s nicht leicht. Wie nur soll er das anpreisen, was ihm am Herzen liegt? Nämlisch des schöne Hesseland.

    Mit dem breiten Handel-, Gewerbe-, Dienstleistungs- und Industriegürtel zwischen Hanau im Osten und Wiesbaden im Westen braucht er gewiss nicht zu kommen, wenn er so etwas wie Liebreiz der Heimat vorführen will. Wer mag schon Offenbach als sozialen Hotspot bewundern, Frankfurt als eher unerbittliche Geschäftsstadt, dazu Autobahnkreuz, Flughafen, Opel Rüsselsheim südlich des Mains, Industriepark Höchst nördlich des Mains? Alles bissi schwierisch.

    Eigentlich hat es der klassische Hesse an sich – Alter meist deutlich über 40, Eintracht-Fan, Mitglied des SPD-Ortsvereins, regelmäßiger Drang zum Apfelweinwirt seines Vertrauens – ja gar nicht nötig, sein vor 70 Jahren zusammengeschmiedetes Bundesland zu lobpreisen. Denn der Hesse gibt sich gern unbeeindruckt: Klar, logisch is des Hesseland schön, aber da mache mer jetzt net so viel Aufhebens drum . . . Und dass der Goethe hier am Main, in Frankfurt, am 28. August 1749 „mit dem Glockenschlage zwölf“ geboren . . . ach, was soll's.

    Freilich juckt es ihn bei seiner Ehre, dann doch, das Wahre, Schöne und Gute seiner Heimat zu präsentieren. Also das, was Hessen ausmacht. Als da wären die charakteristische Natur, die offiziell anerkannte Kultur – sowie unserem Hessen ganz wichtig – die traditionell herzhaften Delikatessen. Nun kommt der Hesse in Fahrt, nun zieht ihn – frei nach dem Frankfurter Goethe – das Höchste hinan. Nun sagt er sich: Wer das Hesseland net liebt, dem zeisch ischs . . .

    Und so macht er sich auf mit Bus oder Regionalbahn, um gleich mal droben, in Nordhessen, klarzumachen, wo der Hammer hängt in Sachen hessischer Unesco-Welterbestätten und abgesegneter hessischer Globalkultur. Zeigt vielleicht die Handexemplare der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm im Museum „Grimmwelt“ von Kassel. Weist vielleicht auf die 30 Millionen Dokumente im Archiv des International Tracing Service in Bad Arolsen hin, mit denen weiterhin versucht wird, Schicksale der NS-Verfolgung zu klären – ein Unesco-Weltdokumentenerbe. Aber dann geht unser Musterhesse vor allen Dingen: wandern.

    Da braucht er keine großen Sprüche zu klopfen, da ist im Nationalpark Kellerwald-Edersee die Ausgangslage so klar wie die Luft über diesem gut 57 Quadratkilometer weiten Rotbuchenwald: unzerschnitten, ungenutzt, im Grunde unberührt, von höchster Schutzstufe. Denn zum Weltnaturerbestatus kommt im Falle des Kellerwalds noch die Anerkennung durch die Internationale Union zum Schutz der Natur hinzu (IUCN), und die verlangt unter anderem strikt: Mindestens 75 Prozent der prämierten Fläche darf keinerlei Verwertung zugeführt sein. Das erreicht der Kellerwald mit links – und das ist auch im Besucherzentrum nahe Herzhausen (Bahnstation!) nachzuvollziehen sowie im Urwald selbst zu erleben. Zwischen hunderten von Quellen, zwischen bizarr gewachsenen, steinalten Buchenriesen tummeln sich etwa 860 Schmetterlingsarten und 1100 Pilzsorten, dazu nahezu unsichtbar der Schwarzstorch, die Wildkatze und der Luchs. Außer auf dem 500 Meter breiten Nationalpark-Rand wird hier nicht eingegriffen, nicht bei Windbruch, nicht bei Feuer, nicht bei Borkenkäfer-Befall. Die Natur soll Natur bleiben. Wie in Grimms Märchen. Und eine Hüterin erklärt, weshalb der Kellerwald von jeher prädestiniert für einen Nationalpark war: kaum Holzeinschlag, stattdessen feudale Jagd. Unser Hesse aber denkt bei sich: Hab? isch jetzt zu viel versproche? Hab? isch net!

    Er hat auch nicht zu viel versprochen, wenn man sieht, wie Mittelgebirgswald, Feld und Wiese sich bei dünner Besiedelung hügelig-gewellt hinziehen bis ins 50 Kilometer entfernte Kassel, bis zum Bergpark Wilhelmshöhe hoch über der Stadt, barockes Denkmal, lokales Wahrzeichen, international beachtetes Weltkulturerbe. 300 Jahre alt wird im kommenden Jahr der von dem Augsburger Goldschmied Johan Jacob Anthoni geschaffene 8,25 Meter hohe Herkules auf der Spitze eines Oktogons, Startpunkt auch der sommerlichen Wasserspiele, bei denen 350 000 Liter Wasser über Kaskaden 200 Höhenmeter hinunterfluten und – ohne Pumpe, nur durch natürlichen Druck – eine starke Fontäne speisen, die so hoch sprudelt wie die barocke Ingenieursleistung der sich in Sanierung befindenden Anlage zweifellos bleibt.

    2017 gibt es nicht nur für unseren Hessen noch einen weiteren Grund, nach Kassel zu fahren. Denn dann sind wieder fünf Jahre um, und die Documenta 14, diese weltweit wohl bedeutendste Ausstellung zeitgenössischer Kunst, öffnet wieder für 100 Tage ihre Pforten. Dass das in Kassel passiert, hat doppelten pikanten Reiz. Zum einen ist es nicht sonderlich gewagt zu behaupten, der Kasselaner habe sich seinen Stolz, an der Welt-Avantgarde beteiligt zu sein, geistig hart erarbeitet.

    Zum Zweiten bleibt es eine hübsche kleine Ironie, wenn der mehr oder weniger aufgeklärte, mehr oder weniger intellektuelle, mehr oder weniger finanzstarke Frankfurter sich nach Kassel begeben muss, um zu sehen, was die Kunst morgen ausmacht. Da kommt er mal raus aus seinen Straßenschluchten und aus der Museumsmeile am Main; da kann er sich mal frische Kunstluft um die Nase wehen lassen. Hesse is eben net nur Frankfort!

    Freilich muss keiner zu Documenta-Zeiten nach Kassel fahren, um Documenta-Kunst zu betrachten. Denn etliche spektakuläre Werke der Schau verblieben seit 1977 vor Ort – zuvörderst natürlich „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ von Joseph Beuys (1982) mit offiziell 7000 Bäumen und 7000 Basaltstelen, ein sozial-ökologisches Kunstwerk, vielleicht auch das Herz jeglicher hessischen Rot-Grün-Kernkompetenz. Dann auch Claes Oldenburgs „Spitzhacke“ in der Karlsaue sowie Walter De Marias „Erdkilometer“ (1977) vor dem Fridericianum, diesem weltweit ersten Museum: eine Erdbohrung, 1000 Meter tief, deren SedimentsAushub komprimiert auf wenige Meter auch in Kassel zu sehen ist. Das sind nur drei Werke von insgesamt 16, die seit kurzem mit kostenlos herunterladbarer App-Erklärung auf drei Spaziergängen erkundbar sind.

    Was einst umstritten war, gehört heute wie selbstverständlich zum Stadtbild. Und der Hesse, der schon einen Zug zum Liberalen und zur Toleranz hat, kommentiert trocken: Jedem Tiersche sei Pläsirsche.

    Hessen vorn, der betagte Schlachtruf, den jedenfalls die Documenta einlöst, galt – künstlerisch betrachtet – im Prinzip schon vor 1900. Szenenwechsel in den Süden, Szenenwechsel nach Darmstadt. Großherzog Ernst Ludwig von Hessen war es, der 1898 sieben Jugendstilkünstler in seine Residenzstadt holte, die in mehreren Sparten das Schöne mit qualitätsvollem Handwerk und praktischer Menschenzugewandtheit verbinden sollten. Das taten sie auch wunderbar; allein der ideelle Erfolg war größer als der wirtschaftliche Nutzen für die Künstler. Was von ihnen blieb, ist nun auf der Mathildenhöhe regelrecht zu bewundern: sieben stilvolle Villen, dazu ein Atelier-Museum und der weithin sichtbare Hochzeitsturm. Das alles von solch erlesener stilistischer Reinheit zwischen Historismus und Moderne, dass die Mathildenhöhe gute Chancen hat, 2020 in den Rang eines Unesco-Weltkulturerbes zu kommen.

    Bleibt mindestens noch ein Stolz der Hessen zu erwähnen: der Apfelwein. Auch da tut sich seit geraumer Zeit viel. Denn manchem ist er zu sauer, zu rau – und da haben nun jene Erzeuger ihren Auftritt, die zu Spezialitäten wie „ahler Worscht“ aus Nordhessen oder „Kochkäse“ aus dem Odenwald einen reinsortigen filtrierten Apfelwein kredenzen können: aus Jonagold etwa, aus Boskop oder Goldparmäne. So die Apfelweinmanufaktur Immenhof am Rande des Taunus in Bad Soden-Neuenhain, die übrigens 2007 politisch durchsetzte, dass es in Hessen auch Straußenwirtschaften für Apfelwein geben darf.

    Die Jonagold-Probe überzeugt unseren Hessen restlos. Und beim zweiten Glas fällt dem Patrioten dann – frei nach dem Dichter Friedrich Stoltze – ein: Es will mer net in de Kopp enei, wie kann nur e Mensch net aus Hesse sei!

    Tipps zum Trip: Infos zu Apfelweinwirtschaften mit reinsortigem filtrierten Apfelwein gibt es im Internet unter www.schuchs-restaurant.de sowie www.immenhof-neuenhain.de

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