Wenige Minuten, nachdem die ersten Trends über das künftige Europäische Parlament feststanden, setzten sich die beiden Spitzenkandidaten zusammen und legten ihre politischen Unterschiede beiseite. Der Unterlegene gratulierte dem Sieger und versprach, dass der andere Kommissionspräsident werden würde.
Aber was noch viel wichtiger war: Die beiden diskutierten, wie sie in einem Plenum, in dem Rechte und Nationalisten deutlich stärker vertreten sein würden, eine Mehrheit organisieren könnten. Damit das europäische Projekt nicht blockiert oder ausgebremst wird. Das war vor fünf Jahren und die beiden Beteiligten hießen Martin Schulz für die Sozialdemokraten und der Christdemokrat Jean-Claude Juncker, dessen Europäische Volkspartei (EVP) als Sieger aus der Europawahl 2014 hervorgegangen war.
In der vergangenen Nacht hätten nur die „Chefs“ der beiden großen Parteienfamilien nicht gereicht. Alle Umfragen, Prognosen und Analysen im Vorfeld hatten gezeigt: Die politischen Ränder würden stärker werden, was die Vertreter der übrigen Parteien zwingen wird, in den kommenden fünf Jahren stärker zusammenzurücken.
Und das hat Konsequenzen: Diese Europäische Union wird grüner und liberaler. Es gibt die fast 40 Jahre andauernde Große Koalition, die nie ein Bündnis, aber sehr wohl eine Absprache war, nicht mehr. Um Mehrheiten zu bekommen, sind drei, wenn nicht sogar vier Parteien nötig. Manfred Weber wusste das, als er am späten Abend und nach den ersten Stellungnahmen in Berlin nach Brüssel flog.
Kämpferisch werde es sich geben, hatten seine Leute gestreut, noch bevor der CSU-Politiker kurz vor Mitternacht seine Bilanz ziehen konnte. Von „einem großen Schritt auf die Liberalen zu“ war die Rede. Jene Liberalen, die sich in den vergangenen Wochen immer mehr um Frankreichs Staatspräsidenten Emmanuel Macron und seine Idee einer Allianz mit dem Titel „Renaissance“ geschart hatten.
„Vielleicht bietet Weber noch in der Nacht dem bisherigen liberalen Fraktionschef Guy Verhofstadt an, Parlamentspräsident zu werden?“, wurden Gerüchte kolportiert. Auf diese Weise könne er die Liberalen „fest einbinden“ – nach dem Motto: Wer Stimmen haben will, muss auch etwas geben, denn Weber will Kommissionspräsident werden – zumindest dann, wenn das europäische Endergebnis am frühen Morgen dies hergibt.
Dazu braucht er nicht nur Entschlossenheit, sondern noch im Laufe des heutigen Tages Rückendeckung potenzieller sozialdemokratischer, liberaler und grüner Unterstützer. Denn inzwischen hat sich herumgesprochen, dass die Staats- und Regierungschefs, die am Dienstagabend in Brüssel den Wahlausgang analysieren und über Konsequenzen beraten wollen, nichts lieber täten, als das Spitzenkandidaten-Modell endgültig und dauerhaft zu beerdigen.
Es sieht nicht so aus, als werde die Europäische Union in den nächsten Wochen zur Ruhe kommen. Der Brexit schwebt über allem. Auf den Führungsetagen der EU wird angeblich sogar überlegt, die so wichtigen Wahlen einer neuen Führungsmannschaft – Kommissions-, EU-Ratspräsident sowie der oder die Hohe Beauftragte für die Außen- und Sicherheitspolitik – bis in den November zu verschieben.
Dann sei wenigstens sicher, dass die britischen Parlamentarier nicht dabei sind und „Nigel Farage mit seinem Störfeuer ins Leere läuft“ – wie es am Sonntag ein hochrangiger Kommissionsmitarbeiter ausdrückte. Politisch plausibel erscheint das, aber die EU wäre zugleich über Monate hinweg gelähmt.
Sonntagabend in Brüssel: Die EU befindet sich im Wartezustand.