Am Sonntagnachmittag um 14 Uhr versammelten sich bei strahlendem Sonnenschein Tausende von Menschen auf dem Platz Sergels Torg in Stockholm zu einer „Manifestation der Liebe“. „Unsere Toleranz erschreckt viele dunkle Kräfte“, sagte Veranstalter Damon Rasti. „Doch angesichts der Gefahr halten wir uns an den Händen. Nichts und niemand kann uns verändern.“ Nur wenige Meter von diesem Platz mitten im Herzen der schwedischen Hauptstadt war am Freitagnachmittag ein Lastwagen in die Menschenmenge gerast. Vier Personen starben, 15 wurden zum Teil schwer verletzt.
Am Steuer des Lasters, so der jetzige Ermittlungsstand, saß ein 39-jähriger Mann aus Usbekistan. Er war untergetaucht, nachdem sein Antrag auf eine Daueraufenthaltsgenehmigung abgelehnt worden war. Viel mehr ist offiziell bislang nicht über den mutmaßlichen Täters bekannt. Doch einiges deutet auf islamistischen Hintergrund hin. „Auf der Facebookseite des Verdächtigen habe ich zwei Filme gesehen“, berichtet Terrorismusforscher Magnus Ranstorp in der Tageszeitung „Svenska Dagbladet“. „Der eine huldigt das Kalifat, beim anderen geht es um Kinder. Beides sind IS-Filme, soweit ich das beurteilen kann.“ Die Ermittler nahmen derweil am Sonntag eine zweite Person unter Terror- und Mordverdacht fest.
Mit Bedrohung gerechnet
Damit wäre der fundamentalistische Terror also in Schweden angekommen. Überraschend ist das nicht wirklich. Der jüngste Jahresbericht des schwedischen Staatsschutzes Säpo, publiziert vor weniger als einem Monat, liest sich wie eine Prophezeiung. Es gebe eine Bedrohung durch Einzeltäter, die von verschiedenen extremistischen Ideologien inspiriert seien, heißt es da.
Gleichzeitig warnte der Staatsschutz besonders vor Heimkehrern aus Syrien und dem Irak. Seit 2013 haben sich laut Säpo rund 300 Schweden dem IS angeschlossen. Das ist gemessen an der Bevölkerungszahl eine der höchsten Quoten in Europa. 40 von ihnen starben im Kampf, 150 sind mittlerweile zurückgekehrt. Ein schwedischer Rückkehrer sitzt wegen seiner mutmaßlichen Verwicklung in die Anschläge in Brüssel im März 2016 im Haft.
Dennoch gibt es in Schweden keine koordinierten Aussteigerprogramme für Dschihadisten. 2014 richtet die Regierung zwar den Posten eines „nationalen Koordinators für die Arbeit mit gewaltbereiten Extremisten“ ein. Doch die erste Koordinatorin trat nach einem internen Skandal zurück, die zweite schmiss nach wenigen Monaten das Handtuch und die dritte hat sich bislang nicht durch Sachkompetenz hervorgetan. Das öffentliche Vertrauen in den Posten war endgültig dahin, als die zuständige Demokratieministerin Alice Bah Kuhnke kürzlich in einem Fernsehinterview die gute Arbeit der nordschwedischen Gemeinde Umeaa mit IS-Rückkehrern lobte. Dumm nur, dass es in Umeaa, wie die Gemeinde mitteilte, nicht einen einzigen Rückkehrer gibt.
Mittlerweile ist die Ministerin nicht mehr zuständig, doch immer mehr Schweden fragen sich, was die Behörden eigentlich tun, um sie vor dieser Gefahr zu schützen. „Schweden ist eine offene Gesellschaft und so soll es auch bleiben“, sagte der sozialdemokratische Ministerpräsident Stefan Löfven am Tag nach dem Attentat. „Unser Land wird getragen von einer Stärke, die uns kein Terrorist, kein jämmerlicher Mörder, nehmen kann.“
Dieses Gefühl dominierte tatsächlich in den Stunden nach dem Attentat. Als am Freitag keine Busse, keine U-Bahnen fuhren und Tausende in der Innenstadt festsaßen, boten viele Stockholmer auf dem Twitter-Hashtag •openstockholm Unterschlupf, Transport und Verpflegung an. Immer wieder dankten und umarmten sie auch Polizisten. Sogar der oft gehässige Ton in den Sozialen Medien ist bislang ungewöhnlich beherrscht.
Toleranz und Großzügigkeit
Behörden, Krankenhäuser und Polizei haben funktioniert. „Bei aller Trauer ist das Gefühl von Toleranz und Großzügigkeit überwältigend“, sagt die Passantin Karin Mörtberg. In gewohnter Manier halten die Schweden zusammen. Vertrauen ist einer der Grundpfeiler dieser schwedischen Gesellschaft. Das deutsche „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ klingt hier eher fremd.
„Es hat Jahrhunderte gebraucht, das außergewöhnliche mitmenschliche Vertrauen aufzubauen, das den Norden zu so einem freien, friedlichen und wohlhabenden Teil der Welt gemacht hat“, schreibt der Schriftsteller Maciej Zaremba nach dem Anschlag. „Terroristen können töten und Gebäude in die Luft sprengen. Unsere Gesellschaft können nur wir selbst zerstören.“
Gemessen an seiner Bevölkerungszahl hat Schweden die meisten Flüchtlinge aufgenommen. Tolerant, offen, modern - so vermarktet sich das Land. Das kommt gut an, vor allem in Deutschland. Doch dieses Bild ist seit geraumer Zeit zu eindimensional. Anfang 2016 machte die rot-grüne Minderheitsregierung von Stefan Löfven eine radikale Kehrtwendung in der Asylpolitik. Auch steigen die einwanderungsfeindlichen, rechtspopulistischen Schwedendemokraten stetig in der Wählergunst. In den jüngsten Meinungsumfragen sind sie mit 18 Prozent erstmals zweitgrößte Partei hinter den Sozialdemokraten und vor den Konservativen.
Jetzt unmittelbar nach dem Terroranschlag herrscht noch eine Art Burgfrieden zwischen den politischen Parteien. Doch dieser wird, dazu bedarf es keiner hellseherischen Fähigkeiten, nicht lange halten. Am Wochenende begann der Parteitag der Sozialdemokraten in Göteborg. Die Befürworter einer Rückkehr zur großzügigen Asylpolitik werden es nach dem Attentat vom Freitag schwerer haben. Auch deutet alles darauf hin, dass Schweden seine Terrorgesetze verschärfen wird.
Im Gegensatz zu Deutschland, Frankreich und Belgien ist die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in Schweden kein Straftatbestand. Somit muss möglichen IS-Mitgliedern die Beteiligung an einer konkreten Straftat nachgewiesen werden, um sie verurteilen zu können.
Innenminister Anders Ygeman signalisierte nach dem Attentat aber Bereitschaft zu einer Verschärfung der Gesetze. Diskutiert wird auch, ob zukünftig Daten aus der Fernmeldeaufklärung des militärischen Abschirmdienstes zu Ermittlungswecken verwendet werden dürfen. Die tolerante, offene, schwedische Gesellschaft ist, so scheint es, in Gefahr - von innen und von außen.
Mit Informationen von dpa