Der Kurde Iskender Kahraman möchte gern die Tageszeitung „Azadiya Welat“ (Freies Land) lesen. Kahraman sitzt zwar wegen Mitgliedschaft in der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK im Hochsicherheitsgefängnis der osttürkischen Stadt Van. Aber das ist eigentlich kein Hinderungsgrund für die Lektüre, bestimmt doch Artikel 5271 des türkischen Strafvollzugsgesetzes, dass Häftlinge Zeitungen und Zeitschriften abonnieren können – wenn sie dafür bezahlen.
Draußen, am Kiosk, kostet die „Azadiya Welat“ 50 Kurus, umgerechnet 24 Cent. Umso erstaunter war Kahraman, als ihm die Gefängnisleitung den Preis für sein Abonnement mitteilte: Die Zeitung soll 1080,50 Lira kosten, umgerechnet 524,51 Euro – pro Tag.
Übersetzungsarbeiten
Von dem Gesamtbetrag entfallen 50 Kurus auf das Blatt. Das darf Kahraman allerdings nicht im Original lesen, denn Kurdisch ist in den türkischen Gefängnissen eine verbotene Sprache. Also will die Gefängnisleitung die Zeitung ins Türkische übersetzen lassen. Das kostet für jede der zwölf Seiten 90 Lira. Macht 1080 Lira pro Ausgabe.
Kahraman legte gegen die Rechnung beim zuständigen Gericht in Van Beschwerde ein, wurde aber abgewiesen. Jetzt hat sich sein Anwalt an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt.
Die Tragikkomödie zeigt, auf welche Hindernisse der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan mit seiner „Demokratie-Initiative“ stößt, die helfen soll, den Kurdenkonflikt beizulegen. Erdogan kämpft gleich an mehreren Fronten: Kemalisten und Nationalisten, der Sicherheitsapparat und die Justiz sträuben sich gegen mehr Rechte für die Kurden und hintertreiben Erdogans Initiative mit allen Mitteln. So hatte der Premier kürzlich die kurdische Sängerin Rojda eingeladen. Mit ihr und anderen kurdischen Künstlern wollte Erdogan über die Kurdenpolitik diskutieren. Doch davor wurde Rojda festgenommen – weil sie auf einem Festival in der Kurdenmetropole Diyarbakir aufgetreten war. Die Staatsanwaltschaft wirft ihr „PKK-Propaganda“ vor.
PKK heizt den Konflikt an
In den vergangenen Tagen nahm die Polizei im Südosten der Türkei annähernd 200 Kurdenvertreter fest, darunter mehrere Politiker der Partei für Frieden und Demokratie (BDP), einer Nachfolgeorganisation der im Dezember verbotenen Kurdenpartei DTP. Die PKK heizt den Konflikt an. Sie sieht in den Plänen des Premiers, kurdische Rebellen zur Aufgabe ihres bewaffneten Kampfes zu bewegen und in die Gesellschaft zu integrieren, ein existenzielle Bedrohung – eine friedliche Lösung der Kurdenfrage würde die Guerillaorganisation schließlich überflüssig machen.
Festnahme oder Flucht
Wie weit diese Lösung nach der anfangs aufkeimenden Zuversicht wieder in die Ferne gerückt ist, bekommt auch Eser Uyansiz zu spüren, der Herausgeber von „Azadiya Welat“. Sechs Chefredakteure hat er allein in den vergangenen drei Jahren verloren. Sie wurden entweder festgenommen oder flohen ins Ausland, um sich drohender Verhaftung zu entziehen. Jetzt braucht Uyansiz schon wieder einen neuen Redaktionsleiter: Der bisherige, Özan Kilic, wurde vor kurzem wegen „PKK-Propaganda“ zu 21 Jahren Haft verurteilt.