Die Ferien in Bayern stehen vor der Tür und Tausende Urlauber freuen sich auf unbeschwerte Stunden am Meer. An der deutschen Ostsee-Küste hat ein starker Wind die Urlaubsfreude vieler Badegäste in den vergangenen Tagen allerdings enorm getrübt. Es kam zu mehreren tödlichen Badeunfällen. Der Timmendorfer Strand musste erstmals in seiner Geschichte von der Polizei gesperrt werden. Der Grund: Auf aktuelle Warnmeldungen und rote Flaggen am Strand geben viele Urlauber gleich welchen Alters schon lange nichts mehr.
Selbst die verstärkten Warnhinweise der Kommune, Lautsprecherdurchsagen der Wasserschutzpolizei und eindringliche Bitten der Rettungskräfte vor Ort konnten die Urlauber nicht davon abhalten, sich in die Fluten zu stürzen. Schließlich griff die Polizei ein und sperrte den beliebten Strand.
Viele Badegäste, so erklärt Martin Janssen, Pressesprecher der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft DLRG auf Anfrage dieser Zeitung, seien aber auch schlicht unzureichend über die Gefahren am Meer informiert. Die Zahl derer, die jährlich an Europas Küsten durch Badeunfälle ums Leben kommen, so Janssen, liege bei schätzungsweise 37 000.
Die Rettungskräfte an der Ostsee sind wütend: „Die Menschen unterschätzen nicht nur die Gefahren, sie ignorieren sie einfach. Da spielen trotz höchster Warnstufe kleine Kinder unter der rot gehissten Flagge für die höchste Warnstufe mit Luftmatratzen und Schwimmflügeln in der Brandung!“ DLRG-Pressesprecher Janssen kennt den Frust der Kollegen vor Ort nur zu gut. „Natürlich kann sich jeder in meterhohe Brecher reinwerfen, wir können den Badegästen ja nichts verbieten. Und natürlich holen wir sie unter Aufbietung aller Kräfte im Notfall wieder hinaus. Aber vielleicht sollte man mal vorher überlegen, dass man eben nicht nur sein Leben riskiert, sondern auch das der Helfer!“
Nicht selten bekommen aber genau diese Helfer von renitenten Badegästen, die sich gemaßregelt fühlen, Prügel angedroht. Ob auf Mallorca, in der Türkei, auf den Balearen oder an den deutschen Küsten: 80 Prozent aller Rettungseinsätze an den Badestränden in Europa sind auf Unfälle infolge von Unterströmungen, sogenannten Ripp-Strömungen, zurückzuführen. Rettungskräfte beklagen seit Jahren die mangelnde Aufklärung seitens der Kommunen, Hotelbetreiber und Reiseveranstalter. Gefährliche Strandabschnitte sind häufig nicht als solche gekennzeichnet.
Eine Ripp-Strömung entsteht, wenn entgegengesetzte Wasserströme aufeinandertreffen und sich dann den einfachsten Weg zurück ins Meer suchen. Solange diese Wasserbewegungen nicht durch Sandbänke, Buhnen, Felsen oder Inseln beeinflusst werden und auch die Wind- und Wellenstärke gering ist, sind sie einigermaßen berechenbar.
Doch bei starkem Wind wie in den letzten Tagen an der Ostsee, entwickeln die Wassermassen eine enorme Kraft, die auch geübte Schwimmer blitzschnell ins Meer ziehen kann. Unterströmungen können eine Länge von 100 Metern erreichen, wer hineingerät, ist darin gefangen, kann sich nur mit Mühe halten.
Forscher in aller Welt bemühen sich seit Jahren, den Phänomenen der Unterströmungen auf den Grund zu gehen. Doch jeder Strandboden, jede Bucht, jeder See ist anders, jeder Felsvorsprung erzeugt eine andere Reaktion. Das macht eine Prävention mittels Vorhersagen schwierig.
„Gegen diese Strömungen anzuschwimmen, ist unmöglich“, erklärt der Diplom-Biologe und Referatsleiter in der DLRG-Bundesgeschäftsstelle für die Bereiche Einsatz, Medizin und Sport, Peter Sieman auf Anfrage dieser Zeitung. Die Strömungen erreichen eine Geschwindigkeit von zehn Stundenkilometern. Wer in eine Ripp-Strömung gerate, sollte unbedingt Ruhe bewahren und eben nicht verzweifelt und panisch gegen die Strömung auf den Strand zuschwimmen.
„Es ist besser, sich mit der Strömung zurücktreiben zu lassen, meist hört sie nach 150 bis 200 Metern wieder auf und dann in einem Bogen zum Strand zurückzuschwimmen“, rät der Experte. Doch häufig sei die Angst, ins offene Meer hinausgezogen zu werden, so groß, dass die Badegäste sich bis zur totalen Erschöpfung den direkten Weg zum Strand versuchten.
Hinweise am Strand, sich von Pfeilern und Buhnen fernzuhalten, sollte man unbedingt beachten, da Strömungen dort wahrscheinlicher seien als anderswo. „Außerdem kann man durch die Wellen gegen diese Bauwerke geschleudert werden. Folgen sind Kopfverletzungen, Bewusstlosigkeit und im schlimmsten Fall Ertrinken“, so Peter Sieman.
80 Prozent der häufig tödlich endenden Badeunfälle infolge von Strömungen könnten durch entsprechende Vorsichtsmaßnahmen verhindert werden. „Verantwortlich handelt, wer sich vorab über die Wind- und Wasserverhältnisse an seinem Strandabschnitt bei den Rettungskräften, im Hotel oder der Touristikzentrale erkundigt“, sagt Sieman. Eltern sollten vorab die Gegebenheiten im Wasser testen, bevor sie ihre Kinder alleine am und im Meer toben lassen.
„Im Notfall sollte man nicht auf eigene Faust hinterherschwimmen, sondern immer erst noch schnell andere Menschen informieren. Im Idealfall sind Rettungskräfte vor Ort, die diesen meist lebensgefährlichen Einsatz übernehmen können“, erklärt Experte Sieman. Er ist überzeugt davon, dass vier von fünf Badeunfällen vermeidbar wären, wenn sich die Menschen vorab informieren und ernsthaft mit den Risiken in den Gewässern auseinandersetzen würden.
Derzeit arbeite man europaweit an der Vereinheitlichung der Kriterien für sichere Strände. Dazu gehöre auch eine einheitliche Beflaggung mit klar abgegrenzten Strandabschnitten.