Das Stück Stoff misst 94 mal 94 Zentimeter und macht eine Frau zum „Kopftuchmädchen“. So bezeichnet Thilo Sarrazin „bildungsferne, integrationsunwillige und rückständige“ Muslima. Heute bedecken sechs Würzburgerinnen ihren Kopf mit blau-, schwarz- oder grüngemusterten Tüchern und sie sind entsprechend nervös: Mit Haaren und Hals verschwindet auch ein Stück „Ich“ unter dem Tuch. Denn in den Augen vieler bin „Ich“ jetzt eine andere: eine unterdrückte Frau, die kaum lesen noch schreiben schreiben kann, konservativ. „Kopftuchmädchen“ halt.
Mit einer in ihrem normalen Leben unbekannten Unsicherheit treten die Frauen auf die Straße. In Begleitung „echter“ Muslima laufen sie durch die Würzburger Innenstadt, um auszuprobieren, wie Mitbürger reagieren. Wie fühlt es sich an, zu einer Minderheit zu gehören?
Zunächst einmal warm. Die Kopfbedeckung besteht aus zwei Schichten: Zuunterst liegt ein Baumwollcap, auf türkisch „bone“, dicht am Kopf. Darüber wird mit einigen Nadeln das viereckige Stofftuch drapiert. Kein Lufthauch weht durch die Haare.
In der Fußgängerzone hängen manche Blicke einen Moment länger an den Frauen, als sonst. Die bunten Kopftücher heben die Gruppe aus dem Strom der Einkäufer ab. Unfreundlich sind diese Blicke nicht. Eher erstaunt bis neugierig beäugen vor allem ältere Menschen die „Fremden“.
„Mir schauen jetzt Frauen und Männer nach, die mich ansonsten nicht wahrnehmen würden“, beschreibt Silke Trost den neuen Grad an Aufmerksamkeit. Die Grünen-Stadträtin hat gemeinsam mit Sema Kuzucu von „Kimus“, der Würzburger Kontakt- und Informationszentrale für Muslime, die Aktion „Muslima für einen Tag“ organisiert.
Trost hatte weibliche Führungskräfte und Stadträtinnen zum Mitmachen eingeladen. Die allermeisten haben abgesagt. „Viele konnten terminlich nicht, andere hatten Vorbehalte“, berichtet Trost. Dabei soll der Selbstversuch kein Bekenntnis zum Kopftuchtragen sein. Sondern die Chance, Würzburg einmal aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen.
Andrea Behr ist dabei. „Für mich ist Toleranz gegenüber Mitbürgern aus anderen Kulturen selbstverständlich. Es interessiert mich zu erfahren, wie andere damit umgehen“, ist das Motiv der CSU-Stadträtin mitzumachen. Auf die Probe gestellt wird die Toleranz der Würzburger von den zwei Stadträtinnen, drei Studentinnen und einer Journalistin. Im Bürgerbüro im Rathaus fragt eine „Muslima“ nach Hilfe bei ihrem geplanten Umzug in die Stadt. In der Ausländerbehörde erkundigt sich eine andere nach den Möglichkeiten, ihren algerischen Lebensgefährten nach Deutschland zu holen. Eine Frau mit Kopftuch sucht eine Wohnung für sich und ihre drei Kinder. Fazit des kleinen Tests: Überall treffen die Frauen nette Mitarbeiter.
Im langen, dunklen Gang vor der Ausländerbehörde hatte die Test-Muslima mit einem mulmigen Gefühl im Bauch gewartet. Laut Hörensagen herrscht hier ein rauer Ton. Doch als ihre Nummer aufgerufen wird, begrüßt sie ein freundlicher Mann. 20 Minuten wird die „Verlobte“ über die Möglichkeiten beraten. „Kommen Sie wieder, wenn Sie Fragen haben“, sagt der Beamte zum Abschied.
Stadträtin Trost alias „Hatice Müller“ erhält bei der städtischen Wohnungsbaugesellschaft sowohl eine freundliche Beratung als auch das Angebot einer Dreizimmerwohnung. Als Trost ein paar Tage später die Sache aufklärt, sagt die Stadtbau-Kundenbetreuerin Magdalena Koczy: „Es war für mich völlig normal, Sie wie jede andere Interessentin auch zu behandeln. Es freut mich sehr zu hören, dass Sie uns als tolerantes Unternehmen erlebt haben. Denn das ist unser Ziel. Hatice Müller hat auf mich einen netten und guten Eindruck gemacht, da ist es egal, ob der Mensch nun ein Kopftuch trägt oder nicht.“
Lachend und schwatzend steuern drei Frauen auf ein Café zu. Gemeinsam mit ihnen tritt ein etwa 50-jähriger Mann durch die Tür. „Kopftücher gehören bei uns verboten“, zischt er. Die Damen sind verdattert, setzen sich hin. Der Mann starrt vom Nebentisch herüber. Einige Sekunden vergehen. Dann steht er kopfschüttelnd auf und verlässt vor sich hin schimpfend das Café.
Peinliches Schweigen am Tisch. Dann findet Silke Trost die Sprache wieder: „Dass es solche Typen noch gibt.“ Sie schämt sich vor den muslimischen Frauen für den Rüpel. Gleichzeitig fühlt sie sich selbst verletzt: „Dass jemand wegen meines Äußeren den Raum verlässt, das ist diskriminierend.“ Am liebsten würde sie mit dem Mann über sein Verhalten diskutieren. „Schade, dass der weg ist.“ Ebru Demircan sitzt neben ihr, sie schüttelt den Kopf: „Das habe ich früher auch gemacht. Es bringt nichts.“
Die Muslima ist diese Bemerkungen gewohnt. Ein getuscheltes „geh' heim“ hört sie schon mal in der Straßenbahn oder beim Warten in der Kassenschlange. „Oder es rempelt mich jemand auf der Straße an.“ Mit ruhiger Stimme berichtet sie das, nur die Augen erzählen, dass es Kraft kostet, solche Worte nicht persönlich zu nehmen.
Demircan ist Deutsche, ihre Eltern sind als Kinder aus der Türkei gekommen. Die 24-Jährige studiert in Würzburg Lebensmittelchemie. Sie trägt Jeans, Chucks und zum blauen Lidschatten das passende Kopftuch. „Ich gehe nicht ohne außer Haus.“ Auch wenn es anstrengend ist, Beleidigungen zu ignorieren. Warum lässt sie das Kopftuch nicht weg? „Für mich hat das Kopftuch ausschließlich eine religiöse Bedeutung“, sagt die ledige Studentin. Aufgezwungen werde es ihr nicht. „Ich kenne keine Muslima, die das Kopftuch aus politischen Gründen trägt.“ Stattdessen sei es ihnen ein religiöses Bedürfnis. Frauen würden mit einer Kopfbedeckung weniger nach ihrem Äußerem und mehr nach ihrer Persönlichkeit beurteilt werden.
Offene Diskriminierung wie im Café erleben die Frauen an diesem Tag nicht noch einmal. Weder beim Juwelier, noch in der Boutique, beim Friseur oder in der Straßenbahn werden sie mit Kopftuch anders behandelt als sonst. Doch sie fühlen sich anders. Fremd, unsicher ein bisschen vorsichtiger. „Im Pulk mit anderen ging es. Aber alleine ist es schon komisch gewesen“, berichtet Franziska Schweiger am Ende des Selbstversuchs. Die Haare der Studentin sind wieder offen, das Kopftuch liegt zusammengefaltet in ihrem Schoß. Den Mut ihrer Kommilitonin Ebru, täglich als einzige, deutlich erkennbare Muslima in die Mensa zu gehen, bewundert die junge Frau. Das sei ihr vorher nicht bewusst gewesen. Den Frauen, die das Kopftuch immer tragen, macht das Mut. „Es ist gut zu wissen, dass es wieder ein paar Menschen mehr gibt, die sich vorstellen können, wie wir uns fühlen“, sagt Demircan.
Sogar Sema Kuzucu, die sich als Beraterin bei „Kimus“ mit dem Thema Integration und Kopftuch schon viele Jahre beschäftigt, hat heute etwas gelernt. Dass die Erfahrungen der „verkleideten“ Muslima fast ausschließlich positiv waren, gibt auch ihr Mut. Zum einen zeige es, dass „sich unsere jahrelange Aufklärungsarbeit bewährt hat“. Zum anderen sei klar: „Wer offen und selbstbewusst in Geschäften oder Behörden auftritt, dem wird anders begegnet, als wenn er ängstlich und schüchtern ist und vor allem nicht gut Deutsch kann.“ Die Folgerung für Kuzucu: muslimische Frauen weiter für Sprachkurse zu motivieren.
Und die Teilzeit-Kopftuchträgerinnen? Sie sind sicher, dass aus der Aktion Kontakte und Freundschaften entstehen. „Auch die Universität hat großes Interesse, dieses Projekt fortzuführen“, berichtet Silke Trost. Und sie sind ein bisschen stolz auf ihre Stadt: „Würzburg ist weltoffener als ich geglaubt habe“, resümiert Andrea Behr.
Das Kopftuch
Muslime leiten das Gebot, dass erwachsene Frauen ihren Kopf bedecken sollen, aus dem Koran ab. Unter den Muslimen selbst ist das Tragen aber durchaus umstritten. Eine gesellschaftliche Diskussion löste die Frage aus, ob Lehrerinnen mit Kopftuch unterrichten dürfen. In Bayern ist das, wie in den meisten deutschen Bundesländern, verboten. In der Türkei herrscht in staatlichen Behörden Kopftuchverbot – auch für Schülerinnen und Studentinnen. Muslimische Länder wie Iran, Saudi-Arabien und Sudan zwingen dagegen Frauen, dem dort geltenden Schleierzwang Folge zu leisten. Kopftuchstreit herrscht auch auf dem Rasen: Weil die iranischen Fußballerinnen mit Kopftuch kicken, hat die FIFA sie im Sommer 2011 für Olympiaqualifikationsspiele nicht zugelassen. Einen Kompromiss in Form einer speziellen Kappe, die Ohren und Hals freiließ, hatte zuvor der iranische Verband abgelehnt.