Er gegen sie. Sie gegen ihn. Nicht zum ersten, aber vielleicht zum letzten Mal stehen sich Horst Seehofer, CSU-Chef und Innenminister, und Angela Merkel, CDU-Chefin und Bundeskanzlerin, unversöhnlich gegenüber. Er pocht auf das Ressortprinzip und damit auf das Recht, in seinem Ministerium in eigener Verantwortung handeln zu dürfen. Daher will er notfalls im Alleingang seinen Masterplan vorstellen und unverzüglich Zurückweisungen von Flüchtlingen an der deutschen Grenze anordnen. Sie dagegen bestimmt nach dem Kanzlerprinzip die Richtlinien der Politik, alle Ministerinnen und Minister sind an ihre Weisungen gebunden, bei Differenzen gibt ihr Votum den Ausschlag.
Wird es zum Äußersten kommen? Wagt es Horst Seehofer, sich gegen Merkel zu stellen und am Montag die Zurückweisungen anzuordnen? Und wie reagiert die Kanzlerin darauf? Entlässt sie den Minister – ein Recht, das ihr nach Artikel 64 des Grundgesetzes ausdrücklich zusteht und von dem sie im Jahr 2012 schon einmal Gebrauch machte, als sie ihren damaligen Umweltminister Norbert Röttgen entließ? Doch das war ein Parteifreund. Ein Rauswurf des Chefs der Schwesterpartei aus dem Kabinett wäre ein Novum, etwas noch nie Dagewesenes, das Ende der Koalition.
Vor allem wäre es der definitive Schlusspunkt einer schwierigen Beziehung, die seit bald zwei Jahrzehnten die deutsche Politik prägt. Horst Seehofer und Angela Merkel verbindet nicht nur eine lange, sondern auch eine komplizierte wechselseitige Geschichte mit zahlreichen Höhen und Tiefen sowie Verletzungen und Verwundungen. Vielleicht erklärt auch das die Schwere des Konflikts um die Asylpolitik. „Horst Seehofer hat ein Elefantengedächtnis. Er vergisst nichts – und vergibt nichts“, sagt einer, der ihn seit Jahrzehnten kennt.
Es begann ganz harmonisch
Dabei fing in den 90er Jahren alles ganz harmonisch an. Gemeinsam saßen Merkel und Seehofer einst unter Helmut Kohl am Kabinettstisch in Bonn, er als Gesundheitsminister, sie als Ministerin für Frauen und Jugend, dann für Umwelt. Doch nach der Abwahl Kohls 1998 trennten sich ihre Wege. Merkel machte Karriere, wurde 2000 CDU-Chefin und 2002 auch noch Fraktionsvorsitzende, Seehofer musste sich mit dem Posten eines stellvertretenden Fraktionschefs begnügen.
Zu einem ersten schweren Zerwürfnis kam es, als Merkel die Union modernisieren und in der Gesundheitspolitik einen radikalen Kurswechsel mit der Einführung einer Kopfpauschale vornehmen wollte. Seehofer lehnte dies kategorisch ab, doch er konnte sich gegen Merkel nicht durchsetzen – im November 2004 trat er als Vize-Fraktionschef zurück. „Diese Demütigung hat er nie vergessen“, sagt ein Vertrauter. „Denn in der Sache hat er ja Recht behalten – die Kopfpauschale wurde nie eingeführt.“ Ein Jahr später wurde Merkel Kanzlerin – und Seehofer ihr Landwirtschaftsminister.
2008 wechselte der Ingolstädter als CSU-Chef und bayerischer Ministerpräsident nach München. Auf der Berliner Bühne blieb er gleichwohl präsent, als Chef der Schwesterpartei gehörte er dem Koalitionsausschuss an und bestimmte maßgeblich die Politik der Bundesregierung. An Konflikten herrschte kein Mangel, mal sorgten das Erziehungsgeld, mal die Maut, mal die Mütterrente für einen Dissens zwischen Berlin und München, immer wieder machte Merkel deutlich, was sie von den bayerischen Vorschlägen hielt – nichts. Aber verhindern konnte und wollte Merkel sie auch nicht.
„Das Problem ist, dass sie von ihrer Persönlichkeit unterschiedlicher nicht sein könnten“, sagt ein führender Christdemokrat, der beide aus vielen Sitzungen und Verhandlungsrunden bestens kennt. „Seehofer ist ein Bauchpolitiker, der sich auf sein Gefühl verlässt und ein gutes Gespür für Stimmungen hat.“ Merkel hingegen sei eine „Kopfpolitikerin“, die kühl und rational abwäge, ehe sie sich entscheide. „Ihr macht seine Sprunghaftigkeit und Ungeduld zu schaffen, ihm ihre Emotionslosigkeit.“ Er trage Konflikte offen aus, sie lasse hingegen scheinbar ungerührt alles an sich abperlen. „Wenn es gut läuft, können sie sich perfekt ergänzen“, sagt ein Vertrauter der Kanzlerin, „aber wenn es schlecht läuft, wird es verheerend. Denn beide sind felsenfest davon überzeugt, Recht zu haben.“ Und beide lassen das auch den jeweils anderen spüren.
Seit dem Ausbruch der Flüchtlingskrise im Herbst 2015 gilt das Verhältnis der beiden als zerrüttet, notdürftig nur wurden die Gegensätze und Differenzen im Wahlkampf überdeckt. Unvergessen die Szene auf dem CSU-Parteitag im November 2015, als Seehofer Merkel nach deren Rede eine Viertelstunde lang auf offener Bühne abkanzelte.
„Kein Zeichen der Verständigung“
Er sei „enttäuscht“ von der Rede der Kanzlerin gewesen, weil sie „keinen einzigen Satz“ zum Anliegen der CSU gesagt habe, die Zahl der Flüchtlinge mit einer Obergrenze zu reduzieren, sagte er hinterher zur Begründung. „Kein Zeichen der Verständigung, obwohl sie meine Position kennt.“ Um den Konflikt zwischen den Schwesterparteien nicht weiter anzuheizen, verzichtete der CSU-Chef auf seinen traditionellen Auftritt auf dem CDU-Parteitag in Karlsruhe kurze Zeit später. Und da sich Merkel im vergangenen Jahr weigerte, die CSU-Forderung nach einer Obergrenze ins Wahlprogramm der CDU aufzunehmen, verfasste die CSU ihren eigenen „Bayernplan“ – und setzte in den Koalitionsverhandlungen eine Obergrenze zwischen 180 000 und 220 000 Flüchtlingen pro Jahr durch.
Und nun? Während die CSU geschlossen hinter Horst Seehofer steht, herrscht in der CDU eine gewisse Ratlosigkeit. „Angela Merkel weiß, dass eine Mehrheit in der Fraktion wie eine Mehrheit der Bevölkerung hinter Horst Seehofer steht und sich für Zurückweisungen an der Grenze ausspricht“, heißt es in der CDU, „darum scheut sie auch eine Abstimmung in der Gesamtfraktion.“ Doch eine Lösung des Konflikts ist nicht in Sicht.