Er kann es einfach nicht lassen. Ein Lied soll Wolf Biermann singen, um die Gedenkfeier des Bundestags zum 25. Jahrestag des Mauerfalls am Freitag musikalisch zu umrahmen, mehr nicht.
Doch der unbequeme und streitbare Liedermacher und Lyriker, der im Jahre 1976 von der SED aus der DDR ausgebürgert wurde, belässt es nicht bei einem Lied. Wann hat man schon die Gelegenheit, im Deutschen Bundestag das Wort zu ergreifen und zu sagen, was man schon immer sagen wollte?
So kommt es, wie es wohl kommen muss. Bevor der 77-jährige Wolf Biermann im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes zu seiner Gitarre greift, legt er los und wendet sich direkt an die Abgeordneten der Linkspartei, den Nach-Nachfolgern der einstmals allmächtigen DDR-Regierungspartei. Er sei ja von dem „Ironiker“ Norbert Lammert eingeladen worden, um der Linkspartei „ein paar Ohrfeigen“ zu verpassen. „Aber das kann ich nicht, ich war ja der Drachentöter“, meint er mit Blick auf seine frühere Rolle als furchtloser Kritiker und Gegner des SED-Regimes. Doch den Drachen gebe es längst nicht mehr. „Ein Drachentöter kann nicht mit großer Gebärde die Reste der Drachenbrut tapfer niederschlagen.“
Zwar versucht Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) mit Hinweis auf die Geschäftsordnung den Redefluss Biermanns zu stoppen: „Sobald Sie für den Bundestag kandidieren und gewählt werden, können Sie auch reden. Heute sind Sie zum Singen eingeladen.“ Doch Biermann ist in seinem Element. „Aber natürlich habe ich mir in der DDR das Reden nicht abgewöhnt – und das werde ich hier schon gar nicht tun“, kontert er unter dem Beifall der Unionsfraktion. Und dann geht er frontal auf die Linken los. „Ihr seid dazu verurteilt, das hier zu ertragen. Ich gönne es Euch.“ Es sei „Strafe genug“, dass sie „hier sitzen müssen und sich das anhören müssen“. Die Linken seien „der elende Rest dessen, was zum Glück überwunden ist.“
Die Linken bemühen sich sichtlich, die Haltung zu bewahren und nicht zu reagieren, um einen Eklat bei der Gedenkveranstaltung zu vermeiden. Katja Kipping und Petra Sitte in der ersten sowie Petra Pau und Gregor Gysi in der zweiten Reihe halten sich demonstrativ zurück, den Zwischenruf eines Abgeordneten, die seien „gewählt“ worden, weist Biermann allerdings zurück. Eine Wahl sei „kein Gottesurteil“. Und weiter: „Ich habe Euch zersungen, als Ihr noch an der Macht wart.“
Nach diesem Wortwechsel trägt er seinen Song „Ermutigung“ aus dem Jahre 1968 vor, der einst in der DDR so populär war, dass er als eine Art Volkslied oder gar als heimliche Hymne der Gegner des SED-Regimes galt. Biermann selber nennt das Lied „ein Stück Seelenbrot“, mit dem viele Verfolgte des SED-Regimes „in der Zelle überlebt haben“. Nach seinem Auftritt wird er von SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel umarmt, Bundeskanzlerin Angela Merkel klopft ihm anerkennend auf die Schultern. Der ungewöhnliche Auftritt Biermanns verleiht der Gedenkfeier im Bundestag einen besonderen Akzent. Und auch die Redner tragen dazu bei, dass diese Stunde am frühen Freitagvormittag anders verläuft als üblich. CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt gehört zu den elf Abgeordneten im Parlament, die schon 1989 dem Bundestag angehörten. Sie war dabei, als das Parlament am Abend jenes denkwürdigen 9. November 1989 damals noch in Bonn angesichts der bewegenden Bilder aus Berlin spontan die Nationalhymne sang.
Iris Gleicke von der SPD, die neue Ost-Beauftragte der Bundesregierung aus Thüringen, versagt zeitweise die Stimme vor Rührung. Sie kämpft mit den Tränen, als sie an die einzigartige Stimmung erinnert, die damals im ganzen Lande herrschte. „Manchmal sehne ich mich zurück an den November 89, als sich die Deutschen in den Armen lagen.“
Und auch Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt und Arnold Vaatz von der CDU, sie aus Thüringen, er aus Sachsen, schildern ihre persönlichen Eindrücke.
Gregor Gysi, der Chef der Linksfraktion, geht auf die Vorwürfe Biermanns nicht ein, sondern hält sich demonstrativ zurück. Einerseits nennt er den Fall der Mauer einen „ungeheuren Befreiungsschlag“ und nennt die DDR eine „Diktatur“, die „kein Rechtsstaat“ gewesen sei, andererseits klagt er über die Fehler und Versäumnisse im Einigungsprozess. Mit dem Fall der Mauer sei nicht nur die DDR, sondern auch die alte Bundesrepublik verschwunden. Diese sei „sozialer“ als das wiedervereinigte Deutschland gewesen und habe „keine Kriege geführt“.