Die Zeit steht still in Amatrice. Die Zeiger der Uhr am schmalen, mittelalterlichen Stadtturm im Zentrum des Städtchens wirken wie erstarrt. Auch jetzt, in der Hektik der Rettungsarbeiten stehen sie auf 3.38 Uhr. Das war der Zeitpunkt, als am frühen Mittwochmorgen die Erde in Mittelitalien bebte. Genauer gesagt markierte dieser Moment das Ende des mit Stärke 6 schwersten Erdstoßes der ganzen Nacht. 142 apokalyptische Sekunden lang bebte der Untergrund und mit ihm Straßen, Häuser und Türme.
Die Folgen dieses Grauens sind vom frühen Morgen an im italienischen Fernsehen zu sehen. Es sind Bilder wie aus einem Krieg. Eingestürzte Gebäude, Trümmerhaufen, Staub und verzweifelte, in Wolldecken gehüllte Menschen. Manche stehen vor ihren zu Ruinen eingefallenen Wohnhäusern, andere laufen immer noch panisch durch die Straßen. Zu sehen ist später gar, wie Helfer mit unter den Steinmassen eingeklemmten Verzweifelten sprechen, ihnen Hilfe zusagen.
Über 70 Tote und rund 100 Vermisste wurden bis Mittwochabend im gesamten Erdbebengebiet gezählt, dessen Epizentrum an der Grenze zwischen den Regionen Latium, Marken, Umbrien und Abruzzen lag. Doch wegen der vielen Vermissten könnte die Zahl der Opfer weiter steigen. Von Tausenden obdachlos Gewordenen ist außerdem die Rede.
Als die Sonne am Mittwoch über Amatrice aufgeht, sieht man immer mehr Rettungskräfte auf den Trümmerhaufen. Manche tragen Helme, andere schaufeln mit rastlosem Gesichtsausdruck und bloßen Händen Schutt zur Seite. Von Koordination kann zunächst nicht die Rede sein, es ist eher ein verständlicherweise schlecht organisiertes Herumschwirren. Nicht weit vom Stadtturm wird ein eiliger Fernsehreporter von den Rettern aufgefordert zu schweigen. „Silenzio!“, ruft einer. Man versucht, die Schreie der Verschütteten zu hören und sie so zu orten. Das ist schwierig, denn aus der Luft dringt bereits das Knattern der Rotoren eines Polizei-Hubschraubers. Wer einen Bagger hat, der ist mit diesem zu den Unglücksstellen gefahren und schaufelt unter lautem Donnern Steine weg.
Ein Bild aus Amatrice, dem wohl am meisten bei diesem Beben zerstörte und rund 140 Kilometer von Rom entfernte Ort, prägt sich besonders ein. Es sind etwa ein Dutzend Männer, die auf einem Trümmerhügel einen jungen Mann unter schweren Betonplatten hervorziehen. Zwei Feuerwehrleute haben sich in den Spalt gezwängt und den Mann mit Schnauzbart auf eine Bahre gehievt. Als er verstört nach etwa vier Stunden unter den Steinblöcken das Tageslicht erblickt, bückt sich ein Helfer über den Geretteten. Er küsst ihn auf die Backe und legt ihm eine italienische Flagge über die Brust. Eine Geste, deren Sinn vielleicht nur ein bisschen Wärme nach Stunden der Verzweiflung sein soll.
Aber die Flagge steht auch für ein sich in regelmäßigen Abständen wiederholendes Ritual. Regelmäßig erschüttern Erdbeben das Land, es herrschen Panik, Verzweiflung und Trauer. Dann folgt bald die Wut der Betroffenen, weil man weiß, wie anfällig Italien für seismische Ereignisse ist. Es wird von Bauspekulation, Schuld und großen Geschäften die Rede sein, aber weniger von nachhaltiger Prävention in der Zukunft. Oft hat man den Eindruck, dass Italien sich mit seinem Status als Nation von Erdbebenopfern abgefunden hat. Beinahe, als seien die Beben ein Fanal der Unfähigkeit zum Wandel des ganzen Landes.
Als der Chef des italienischen Zivilschutzes, Fabrizio Curcio, am Mittwoch in Rom vor die Presse geht, vergleicht er das aktuelle Beben mit der Wirkung desjenigen, das vor sieben Jahren 309 Tote in den Abruzzen und der Regionalhauptstadt L'Aquila gefordert hat. Aber in Erinnerung sind auch die beiden Erdbeben aus dem Jahr 2012 in der Emilia-Romagna, ganz zu schweigen von den Katastrophen der vergangenen Jahrzehnte, in Umbrien, im Friaul, in Kampanien und anderswo. Täglich gibt es kleinere, nur von Spezialgeräten erfassbare Erdstöße auf der Apenninenhalbinsel.
Sogar Kinder wissen in Italien, dass im eigenen Land die afrikanische und die eurasische Platte aufeinanderstoßen und permanent Erdstöße erzeugen. Am Mittwoch traf es vier Regionen mitten auf der italienischen Halbinsel, den nördlichen Zipfel von Latium, einen Teil der Marken, Umbrien und die Abruzzen. Gleichwohl war das Beben so stark, dass man es in Rom, Neapel oder Bologna spürte. Auch am Gran Sasso, dem höchsten Gipfel der Apenninen, brachen Gesteinsmassen ab. Im nahegelegenen Norcia und in Urbino wurden historische Gebäude beschädigt. Das Epizentrum soll sich in vier Kilometer Tiefe unter dem 500-Einwohner-Dorf Accumoli befunden haben. Sieben Tote und vier Vermisste soll es hier gegeben haben.
Auch andere Orte wie das nahegelegene Arquata del Tronto wurden in großen Teilen dem Erdboden gleich gemacht. Hier wurden auch am Mittwochnachmittag noch heftige Erdstöße gemeldet, der Schrecken ist offenbar noch nicht vorbei. Die Bürgermeister dieser Orte, die am Mittwoch trotz eines an vielen Orten zusammengebrochenen Telefonnetzes erreichbar waren, haben vom Morgen an alle dasselbe Drama zu erzählen: Die Zufahrtsstraßen der Bergdörfer seien durch heruntergestürzte Trümmer versperrt, man versuche mit allen Mitteln, die Überlebenden aus den Ruinen zu ziehen, aber die Prognosen für Vermisste seien äußerst schlecht.
Schicksalhaft wirkt auch der Zeitpunkt der jetzigen Katastrophe. Die betroffenen Bergdörfer werden während des Jahres nur von wenigen Hundert, selten Tausenden Menschen bewohnt. Amatrice etwa hat normalerweise 2600 Einwohner. Über Generationen sind die Bewohner ausgewandert. Im August kommen viele zurück, um die Verwandtschaft zu besuchen, manchmal sind mehr Gäste als Einheimische vor Ort. In wenigen Tagen sollte in Amatrice zudem das Fest der „Spaghetti all'Amatriciana“ gefeiert werden, eines berühmten Nudelgerichts. Das Städtchen war auf Feierlichkeiten programmiert. Jetzt sagt Bürgermeister Sergio Prozzi: „Der halbe Ort existiert nicht mehr.“ Mindestens 35 Tote gab es alleine hier.
Auf Luftbildern sieht Amatrice aus wie nach einem Bombardement. Grund sind einerseits die teils mittelalterlichen Strukturen, das alte Gemäuer ist derartigen Erdstößen nicht gewachsen. Aber auch viele neuere Gebäude haben nachgegeben. Wie das Krankenhaus am Ortseingang, das eigentlich der sicherste Ort im Dorf sein sollte.
Stattdessen musste das kleine Hospital in der Nacht evakuiert werden. Abdeckungen stürzten zu Boden, von außen sieht das Krankenhaus aus wie ein Kasten, der jeden Moment in sich zusammenfallen könnte. Unter sämtlichen Fenstern haben sich tiefe Risse ins Mauerwerk gebohrt. Die Patienten sitzen oder liegen seit dem Morgengrauen auf dem nahegelegenen Parkplatz. Ein paar bleiche Krankenschwestern kümmern sich um sie.
Hundert Meter weiter befindet sich der Konvent „Mater amabilis“, ein von Ordensschwestern geleitetes Feriendomizil für hilfsbedürftige, alte Menschen. Befand, muss man nun wohl schreiben. Von dem Gebäudekomplex steht noch die von Rissen durchzogene Fassade, durch zwei Fenster schimmert der blaue Himmel, weil das Dach eingestürzt ist. Mindestens drei Ordensschwestern und vier Seniorinnen sollen hier verschüttet worden sein.
Das Fernsehen zeigt Bilder einer Nonne, die in Panik vor dem „Mater amabilis“ vorbeiläuft, als wolle sie eigenhändig ihre verschollenen Mitschwestern retten. „Gott möge uns helfen“, sagt ein Pfarrer mit vom Schutt verstaubtem Hemd.
Was bleibt, sind vor allem Ungewissheiten. Zahlreiche Kinder sollen unter den Trümmern gestorben sein. In Amatrice versuchte eine Gruppe afghanischer Flüchtlinge, zwei angehörige Frauen zu retten, ob sie dabei Erfolg hatten, ist unklar. Wie es heißt, sollen in einem Hotel im Zentrum des Ortes auch mehrere Touristen vom Erdbeben überrascht und eingeschlossen worden sein.
Warum, lautet die drängendste Frage, wirkt Italien so unvorbereitet auf erwartbare Ereignisse wie Erdbeben? Antworten darauf hatte am Mittwoch kaum jemand. Schon gar nicht der zierliche, 27 Meter hohe, aber immer noch kerzengerade dastehende Stadtturm von Amatrice. Angesichts der Schwere des Erdbebens hätte er eigentlich als erstes einstürzen müssen.
Erdbebenregion Italien Das Zentrum des Erdbebens in Italien liegt in unmittelbarer Nachbarschaft des Nationalparks Gran Sasso und Monti della Laga. Die Region ist bei deutschen Wanderern und Mountainbikern beliebt. Das Gebiet zwischen Umbrien, Latium und den Marken liegt rund 140 Kilometer nordöstlich von Rom. Vor sieben Jahren gab es in der Nähe schon ein katastrophales Erdbeben: Die 40 Kilometer südlich gelegene Stadt L?Aquila traf es besonders. Italien wird immer wieder von Erdbeben heimgesucht, da das Land an der Schnittstelle mehrerer tektonischer Platten liegt. „Wir haben dort eine ziemlich komplexe Situation“, erklärt Gernot Hartmann, Geophysiker der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe, „die afrikanische Platte drückt von Süden auf die eurasische Platte.“ Von Osten drücke außerdem die kleine adriatische Platte. „Gleichzeitig wird die Erdkruste auf der westlichen Seite Italiens noch gedehnt, was mit der Öffnung des Tyrrhenischen Meeres in Zusammenhang steht.“ Dadurch entstehe ein komplexes Spannungsfeld. Weitere schwere Beben in Italien: 2012: Bei zwei schweren Erdbeben in der Region Emilia Romagna sterben im Mai 2012 insgesamt 25 Menschen. 2009: Bei einem nächtlichen Beben der Stärke 6,3 im April 2009 wird das mittelalterliche Zentrum von L?Aquila in den Abruzzen in ein Trümmerfeld verwandelt. Es kommen 309 Menschen ums Leben. 2002: Im mittelalterlichen Dorf San Giuliano di Puglia in der Region Molise kommen 30 Menschen ums Leben, darunter 27 Schüler und ihre Lehrerin, die unter den Trümmern ihrer Schule begraben werden. 1997: Im Abstand von einer Woche werden die Regionen Umbrien und Marken von zwei schweren Beben erschüttert. Zwölf Menschen sterben. Beschädigt wird unter anderem die Basilika des heiligen Franz von Assisi. 1990: Ein Beben erschüttert Teile Siziliens. 17 Menschen sterben. 1980: In der Nähe von Neapel ereignet sich ein verheerendes Erdbeben, bei dem 2916 Menschen sterben. 1915: Bei einem Erdbeben in den Abruzzen im Januar 1915 gibt es 30 000 Todesopfer. dpa/afp