Die Regierung will zwar am Sonntag einen neuen Anlauf nehmen, ihren Kandidaten, Außenminister Abdullah Gül, in einem wiederholten ersten Wahlgang in der Nationalversammlung doch noch durchzubringen. Die Aussichten dafür sind aber minimal, nachdem die Oppositionsparteien bereits einen erneuten Boykott der Abstimmung ankündigten, um das Parlament beschlussunfähig zu machen.
Das türkische Verfassungsgericht hatte am Dienstagabend entschieden, dass für eine gültige Wahl die Anwesenheit von mindestens zwei Drittel der Abgeordneten erforderlich ist, also 367 Parlamentarier. Die Verfassungsrichter annullierten deshalb den ersten Wahlgang vom Freitag, zu dem nur 361 Abgeordnete erschienen waren. Sollte das Parlament auch am Sonntag nicht beschlussfähig sein, werde man auf weitere Wahlgänge verzichten, sagte Gül gestern. Offenbar geht auch die Regierung davon aus, dass eine Wahl im gegenwärtigen Parlament nicht möglich ist und brachte am Mittwoch einen Gesetzentwurf ein, der Neuwahlen zur Nationalversammlung für den 24. Juni vorsieht. Da auch die Opposition vorgezogene Wahlen will, gilt der Urnengang als sicher.
Vor der Auflösung des gegenwärtigen Parlaments will die Regierung aber noch mehrere Verfassungsänderungen durchbringen. Die wichtigste: Der Staatspräsident soll künftig direkt vom Volk gewählt werden, nach französischem Vorbild in zwei Durchgängen. Erdogan begründete dies mit dem Urteil des Verfassungsgerichts, das es praktisch unmöglich mache, in Zukunft im Parlament einen Präsidenten zu wählen.
Außer der Direktwahl des Präsidenten sieht die geplante Verfassungsänderung auch eine Verkürzung seiner Amtszeit von sieben auf fünf Jahre mit der Möglichkeit einer Wiederwahl vor. Die Legislaturperiode des Parlaments will Erdogan von fünf auf vier Jahre verkürzen. Eine kleine Oppositionspartei, die konservative Anavatan, signalisierte bereits Zustimmung. Damit scheint die erforderliche Zweidrittelmehrheit gesichert. Strittig ist noch, ob die Direktwahl des Präsidenten bereits zeitgleich mit der für Ende Juni geplanten Parlamentswahl stattfinden kann.
Der Parlamentswahl kann die regierende AK-Partei jedenfalls relativ gelassen entgegensehen. Fast alle Meinungsumfragen, die vor der jüngsten Krise erhoben wurden, attestieren ihr höhere Stimmenanteile als bei der Wahl vom November 2002, nämlich um die 40 Prozent gegenüber knapp 35 Prozent vor viereinhalb Jahren. Populär ist die Regierung wegen ihrer erfolgreichen Wirtschaftspolitik, die dem Land die nachhaltigste Wachstumsphase seit dem Zweiten Weltkrieg bescherte.