Die japanischen Katastrophenmeiler drohend zunehmend außer Kontrolle zu geraten: Erstmals wurde bei einer Explosion der innere Schutzmantel eines Reaktors in der Anlage Fukushima Eins beschädigt, die Strahlenmesswerte schossen in die Höhe. Der AKW-Betreiber Tepco sprach von einer „sehr schlimmen“ Lage. In der Hauptstadt Tokio wurden bereits erhöhte Strahlenwerte gemessen, die Menschen reagierten zunehmend panisch auf das Geschehen.
Die Behörden fürchteten, dass die Zahl der Toten nach Erdbeben und Tsunami bei mehr als 10 000 liegt. Die französische Atomsicherheitsbehörde (ASN) stufte den Störfall auf die zweithöchste Stufe 6 der bis 7 reichenden internationalen Skala ein. Stufe 7 wurde bisher nur vom Unglück in Tschernobyl erreicht.
Strahlendosis steigt
Die Katastrophe hatte mit der Beschädigung des Schutzmantels in Block 2 in der Nacht zum Dienstag eine neue Dimension erreicht. Die noch ausharrenden 50 Tepco-Mitarbeiter am Kraftwerk müssten wegen der hohen radioaktiven Belastung in den Kontrollräumen abgezogen werden, gab der Konzern bekannt. Die radioaktive Strahlung im Umkreis des Unglücks-Kraftwerks erreichte gefährliche Werte. „Wir reden jetzt über eine Strahlendosis, die die menschliche Gesundheit gefährden kann“, sagte Regierungssprecher Yukio Edano. In einzelnen Bereichen des Kraftwerks wurden nach seinen Angaben 400 Millisievert gemessen – dies übersteigt den Grenzwert der Strahlenbelastung für ein Jahr um das 400-fache, so die Nachrichtenagentur Kyodo.
Ministerpräsident Naoto Kan rief die Bevölkerung in den Evakuierungszonen um die beiden Atomkraftwerke von Fukushima eindringlich auf, sich in Sicherheit zu bringen. Bei den Menschen in Japan wächst die Angst vor der Atomkatastrophe sehr. „Das wird ganz schlimm. Aber die Behörden berichten nicht richtig. Die sagen uns nicht, was wirklich ist. Die belügen uns. Wir alle haben solche Angst“, erzählt Kiyoko Yoshimura aus Tokio verzweifelt.
Wer kann, flieht
„Viele fliehen mit ihren kleinen Kindern. Wer die Möglichkeit hat, geht in den Süden“, sagt sie. „Ich bin in Sorge um meine Enkel, die sollen nicht verstrahlt werden.“ Man versuche, Normalität vorzugaukeln. Auch ihre Freundin Tomoko kritisiert: „Es wird nicht korrekt informiert.“ Dabei kann die Bevölkerung die vielen Hiobsbotschaften kaum noch verkraften: „Innere Reaktor-Schutzhülle beschädigt“, „Kernschmelze nicht ausgeschlossen“ oder „sehr schlimme Situation“ – die Medien verbreiten die dramatischen Nachrichten quasi im Minutentakt. Experten raten im staatlichen TV-Sender NHK, sich in gefährdeten Regionen möglichst nicht im Freien aufzuhalten.
Die Geduld hat bei vielen ein Ende, die Verzweiflung nimmt zu – und auch die Kritik an der Informationspolitik von Regierung und dem Betreiber des Atomkraftwerks, Tepco. Regierungssprecher Yukio Edano – bisher immer sehr zurückhaltend in seiner Bewertung – räumt nun eine Gesundheitsgefahr ausdrücklich ein. Ministerpräsident Naoto Kan, selbst unter Druck, greift den AKW-Betreiber an, er sei als Regierungschef zu langsam informiert worden. „Kan hat massiv auf den Tisch gehauen und auch NHK hat sich auf Tepco eingeschossen, aber Tepco bekommt jetzt natürlich auch ein bisschen die Sündenbockrolle“, sagt Japanologe Reinhard Zöllner in Tokio.
„Die Menschen sind stinksauer“, erzählt Zöllner. „Erst hieß es immer: 'Ja, wir haben die Situation im Griff'. Und jetzt die plötzliche Anordnung nahe Fukushima, dass alle wegmüssen.“ Die Anspannung wachse massiv, aber die Stimmung sei nicht in Richtung Panik oder Chaos gekippt, glaubt er.
Die Menschen sind stinksauer
„Die Regale werden leerer, die Warteschlangen länger, viele Grundschulen machen nach vier Stunden schon zu, weil die Lebensmittel für die Schulspeisung fehlen. Und immer mehr Leute verlangen konkrete Infos“, beschreibt er die Lage in der Metropole.
In den Fernsehbildern spiegeln sich Erschöpfung und Zweifel der Betroffenen: „Es war sehr beängstigend“, berichtet eine Frau im japanischen TV nach der jüngsten Explosion im Reaktor.
Hubschrauber sollen Wasser auf Block 4 schütten
Japanische Experten wollen auf abenteuerliche Weise den außer Kontrolle geratenen Block 4 im Atomkomplex Fukushima Eins kühlen. Es sei geplant, mit Hilfe von Hubschraubern Wasser durch Löcher im teilweise zerstörten Dach zu schütten, wie der staatliche Fernsehsender NHK am Dienstag berichtete. Damit sollen im Inneren Kernbrennstäbe gekühlt werden. Zuvor war bekannt geworden, dass sich die Wassertemperatur im Abklingbecken der Brennstäbe bedrohlich erhöht hatte. Block 4 ist der derzeit Einzige unter den havarierten japanischen Meilern, der sich aus technischen Gründen nicht aus unmittelbarer Nähe mit Meerwasser kühlen lässt. Eine Explosion hatte Löcher in eine Wand sowie das Dach gerissen. In den japanischen Medien wurde vermutet, dass die Radioaktivität im AKW zu hoch für einen Einsatz von Menschen ist. Deshalb werde eine Lösung aus der Luft geprüft. Alternativ könnten Feuerwehrwagen an das Reaktorgebäude herangefahren werden, um durch die Löcher Wasser in den Reaktor zu spritzen, hieß es. Block 4 war noch vor dem Erdbeben am Freitag für Wartungsarbeiten vom Netz genommen worden. Deshalb lagern die Brennstäbe außerhalb der eigentlichen Schutzhülle des Reaktors. Text: dpa