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MARKTHEIDENFELD: Fixierung in Altenheimen: Es geht auch anders

MARKTHEIDENFELD

Fixierung in Altenheimen: Es geht auch anders

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    Fragwürdige Praxis: Fixierung eines Altenheim-Bewohners mit einem Bauchgurt durch eine Pflegerin.
    Fragwürdige Praxis: Fixierung eines Altenheim-Bewohners mit einem Bauchgurt durch eine Pflegerin. Foto: Foto: Dorothea Fischer

    Erschreckende Zahlen: Allein im Jahr 2010 haben Gerichte in 100 000 Fällen neu entschieden, dass alte Menschen, die in Heimen leben, an Stuhl oder Bett angebunden werden dürfen. 1997 gab es erst 31 000 solcher Genehmigungen. Studien gehen davon aus, dass Pflegekräfte ein Drittel bis die Hälfte ihrer Heimbewohner mit technischen Hilfsmitteln „fixieren“, wie der Fachausdruck heißt. Nach Schätzungen erhalten bis zu zwei Dritteln Psychopharmaka, um „ruhiggestellt“ zu werden. Das berichtete Prof. Dr. Doris Bredthauer in einer Fachtagung der Regierung von Unterfranken für Altenpfleger im Kreisseniorenheim Marktheidenfeld.

    Es gibt vor allem zwei Gründe, warum Pfleger Heimbewohner anbinden oder ihre Betten mit Gittern verriegeln: Zum einen fürchtet das Personal, dass die immer älteren und zunehmend dementen Senioren stürzen und sich verletzen könnten. Das zieht nicht nur Ärger mit den Angehörigen nach sich, sondern ist oft mit Regressansprüchen der Krankenversicherungen verbunden. Schnell lautet der Vorwurf: „Warum hat niemand aufgepasst?!“

    Zum anderen steht das Pflegepersonal aus Kostengründen so stark unter Zeitdruck, dass eine Rund-um-die-Uhr-Beobachtung jedes Bewohners unmöglich ist. Bleibt scheinbar nur der Ausweg, die Schutzbefohlenen anzubinden, um sie keinen Gefahren auszusetzen. Dabei nehmen alle an der Entscheidung Beteiligten in Kauf, dass es sich um einen schwerwiegenden Eingriff in die Würde und die Freiheit eines Menschen handelt.

    Was aber kaum zur Sprache kommt: Die mittelalterlich anmutenden Fixierungen können zu schweren Verletzungen, ja sogar zum Tode führen, erklärte Bredthauer. Ganz zu schweigen von den psychischen Folgen für Demenzkranke, die nicht verstehen oder vergessen haben, warum sie angebunden sind oder im Gitterbett liegen müssen. Und auch die Pflegefachkräfte selbst leiden unter den Fixierungen der Bewohner, wollen sie doch ihren Schutzbefohlenen einen angenehmen und belastungsfreien Lebensabend gestalten.

    Dieses Dilemma nahm die Regierung von Unterfranken in Zusammenarbeit mit dem Landkreis Main-Spessart zum Anlass, eine Fachtagung für Altenpfleger und Betreuer zu veranstalten. Das Thema der Tagung lautete: „Verantwortungsvoller Umgang mit freiheitseinschränkenden Maßnahmen“ – das Ziel, möglichst vollständig auf Fixierungen zu verzichten. In Kooperation mit dem Kreisseniorenheim Marktheidenfeld, dem Veranstaltungsort, bewies die Regierung zum wiederholten Mal den Mut, ein heißes Eisen in der Altenpflege anzupacken und pragmatische Lösungen zu diskutieren.

    Eine gangbare Alternative ist der „Werdenfelser Weg“, den das Netzwerk Betreuungsverein Haßberge e. V. als Erster in Unterfranken eingeschlagen hat. Vorsitzender Bernd Hermann erklärte, wie das Pflegepersonal den juristischen Fallstricken entgehen kann, wenn es auf die Fixierung verzichten will.

    Die gängige Praxis: Bevor ein Heimbewohner angebunden werden darf, muss er dem zustimmen oder, falls das nicht mehr möglich ist, ein Betreuer für ihn. Zudem muss der Hausarzt ein Gutachten vorlegen und schließlich ein Richter auf Antrag entscheiden, ob eine „freiheitseinschränkende Maßnahme“ auf Zeit erlaubt ist. Sind sich die am Verfahren Beteiligten einig, wird kaum ein Richter der beantragten Fixierung widersprechen. Der „Werdenfelser Weg“ dreht den Spieß um, indem Angehörige, Pflegekräfte, Arzt und Richter sich darauf einigen, auf die Fixierung zu verzichten, sofern es Alternativen im Heim gibt. Das setzt laut Hermann voraus, dass sich zuerst die Pflegekultur wandelt. Ziel muss sein, möglichst oft auf Fixierungen zu verzichten und Alternativen zu verwenden. So gibt es technische Hilfsmittel wie große, mit Styropor gefüllte Säcke vor den Betten, die einen Fall auffangen, oder Klingelmatten, die bei Berührung einen elektronischen Hilferuf auslösen. Auch Kleidung mit eingenähten Protektoren kann den alten Menschen Bewegungsfreiheit zurückgeben und sie dennoch schützen.

    Damit das Personal solche Alternativen anwenden darf, sollten Angehörige und Hausarzt Bescheid wissen und zustimmen. Statt eines Richters macht sich beim „Werdenfelser Weg“ ein neutraler Verfahrenspfleger, der vom Gericht beauftragt ist, vor Ort ein Bild vom Heimbewohner und den Alternativen zur Fixierung. Auf das Urteil dieser ausgebildeten, aber unabhängigen Fachkraft vertraut dann der Richter. Im Idealfall, so formulierte es Günter Herrbach, Richter am Amtsgericht Gemünden, braucht es ihn gar nicht mehr: „Die überflüssigste Instanz in diesem Verfahren ist der Richter.“

    Netzwerk-Vorsitzender Hermann sieht als einen wichtigen Vorteil des „Werdenfelser Wegs“, dass die Beteiligten durch ihre ständige Kommunikation Vertrauen und Einverständnis über ihre Vorgehensweise schaffen und bei Einigkeit deshalb auch keine juristischen Folgen fürchten müssen. Zwar hat die Region Haßberge erst wenige Monate Erfahrungen mit diesem Modell gesammelt, doch ist die Zahl der richterlich verfügten Fixierungen in dieser Zeit schon um etwa die Hälfte gesunken. Für Hermann ein klares Indiz: „Es geht auch anders.“

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