Als sich Frankreichs Gesundheitsministerin Marisol Touraine am Montag endlich öffentlich zu dem Todesfall bei einem Medikamententest äußert, weiß das Land nur eines: Irgendetwas ist gründlich schiefgegangen. Ein Mann verstarb am Sonntag, fünf weitere Patienten liegen in der Universitätsklinik von Rennes.
Der Gesundheitszustand der fünf Männer habe sich verbessert, teilte das Klinikum mit. Einer von ihnen, der keine Symptome hat und nur zu Beobachtung im Krankenhaus war, könne bald nach Hause. Die übrigen vier waren nach mehrfacher Einnahme des Test-Arzneimittels mit neurologischen Beschwerden behandelt worden. Sie können nun in Krankenhäusern nahe ihrer Heimat weiterbehandelt werden, einer muss in Rennes bleiben.
„Wir dachten zunächst, es habe sich um einen Schlaganfall gehandelt“, berichtete Pierre-Gilles Edan, Chef der neurologischen Abteilung am Centre Hospitalier Universitaire de Rennes. „Wir versuchen mit Hochdruck herauszufinden, was da passiert ist.“ „Das ist das erste Mal, dass ein solcher Unfall in Frankreich passiert. Ich kenne keinen Präzedenzfall“, meinte Yves Donazzolo, Präsident von Eurofins Optimed, die zu den 30 öffentlichen und privaten Testzentren des Landes gehört.
128 Teilnehmer bei Testreihe
Unruhe soll nicht aufkommen, deshalb betonte Ministerin Touraine auch am Montag eilig: „Es gibt ein großes, massives Problem. Wir müssen verstehen, was passiert ist, aber es gibt keinen Grund, sämtliche klinischen Tests zu unterbrechen.“ Tatsächlich tappen wohl alle Beteiligten noch im Dunkeln. Fest steht, dass das staatliche Biotrial-Labor am 9. Juli 2015 eine Testreihe mit 128 Männern und Frauen zwischen 18 und 55 Jahren aus den Regionen Bretagne und Mayenne begonnen hatte.
90 Teilnehmer der Reihenuntersuchungen erhielten den neuen Wirkstoff BIA 10-2474 in unterschiedlichen Dosierungen, die übrigen 38 bekamen ein wirkungsloses Placebo. Bei dem Versuchspräparat handelt es sich um einen sogenannten FAAH-Inhibitor, der unter anderem die Schmerzempfindlichkeit regeln soll.
FAAH baut körpereigene Substanzen ab, die an den Cannabinoidrezeptoren so ähnlich wirken sollen wie THC, der Wirkstoff von Cannabis. Um deren Wirkung zu verstärken, hemmt BIA 10-2475 den Abbau durch FAAH. Auf diese Weise sollen Schmerzen, Stimmungsschwankungen und Ängste gelindert werden. Langfristig verspricht sich der Pharmakonzern Bial einen Einsatz auch bei bedingten Bewegungsstörungen, wie sie etwa bei Parkinson auftreten.
Nachdem die Patienten den Stoff zunächst gut vertragen hatten, wurde die Dosis am 7. Januar erhöht, drei Tage später musste der erste Teilnehmer an der Versuchsreihe in das Krankenhaus eingeliefert werden, einen Tag später brach das Labor die Versuchsreihe ab – am vergangenen Sonntag verstarb der Mann. Bisher schweigen die Klinik und die französischen Behörden über die Identität des Opfers. Details über den Probanden sowie die übrigen Patienten dürfen nicht veröffentlicht werden.
Nicht nur in Frankreich wird gerätselt, wie es zu dem Zwischenfall kommen könnte. „Es ist ein absolut außergewöhnliches Ereignis, dass in einer so frühen Testphase ein Teilnehmer stirbt oder in ein Krankenhaus kommt“, sagte Rolf Hömke vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) in Deutschland. Denn üblicherweise werden neue Wirkstoffe in der Phase 1 noch nicht in der Konzentration verabreicht, die später für das Arzneimittel vorgesehen ist.
In der Bundesrepublik hat es einen vergleichbar schweren Fall noch nicht gegeben. Europaweit muss man bis ins Jahr 2006 zurückgehen. Doch das dürfte kaum beruhigend für jene 20 000 Franzosen sein, die allein 2014 an 821 klinischen Studien teilgenommen haben. Der Verband der Kliniken, die bei unseren Nachbarn an solchen Testreihen beteiligt sind (AFCRO), betonte, es gebe eine „Vielzahl von Untersuchungen auf gesundheitliche Risiken, ehe ein Freiwilliger für die Teilnahme an einer Versuchsreihe zugelassen wird“.
Mitarbeiter als Versuchskaninchen
Denn der Dienst an der Forschung zahlt sich aus: So wurde ein 15-tägiger Klinikaufenthalt in der BIA-Testreihe mit 1900 Euro entschädigt. Guy, ein 34-jähriger Anwalt aus Paris, der an klinischen Tests für Diabetes – und Cholesterin-Präparate teilgenommen hat, bestätigte, er habe sich immer „gut informiert gefühlt und stets mehr Unterlagen erhalten, als ich verstehen konnte“. Außerdem seien 150 Euro pro Tag „leicht verdientes Geld“. Studenten, Arbeitslose und sogar Mitarbeiter der Hersteller hätten zu den Versuchskaninchen gehört. Einige wollten sich auf diese Art und Weise „ihren Urlaub finanzieren“.
Sarah, eine Medizinstudentin, die an einer Verträglichkeitsstudie über Impfstoffe als Probandin teilnimmt, sagte: „Wir sind jederzeit frei auszusteigen, wann immer wir wollen. Und jeder von uns weiß, dass der Übergang vom Tier- zum Menschenversuch entscheidend ist.“ BIA 10-2474 hatte die Erprobung an Affen problemlos überstanden. Noch weiß niemand, was schiefgelaufen ist.