Die Stille ist trügerisch. Hinter verschlossenen Türen haben die Unterhändler der europäischen Institutionen längst ihre Beratungen aufgenommen. Es geht um das künftige Personalgerüst der Union, die Besetzung der Spitzenjobs, aber auch um Mehrheiten im neu gewählten Parlament. Die wichtigste Erkenntnis der Experten des Europäischen Statistikamtes Eurostat ist klar: Ohne die allerdings geschwächten Christdemokraten (179 Sitze) gibt es keine Mehrheit. Ohne die ebenfalls dezimierten Sozialdemokraten (153) aber auch nicht. Gebraucht werden die erstarkten Grünen (74) und/oder die durch Frankreichs Präsidentenpartei LREM gekräftigten Liberalen (106).
Doch die haben, zumindest was eine Wahl des CSU-Politikers Manfred Weber zum nächsten Kommissionspräsidenten betrifft, bereits abgesagt. Und auch die Sozialdemokraten pochen weiter darauf, dass ihr Spitzenkandidat Frans Timmermans die bessere Wahl sei. „Das ist die Phase, in der gepokert wird“, sagte ein hochrangiges Mitglied des Europäischen Parlamentes in diesen Tagen. Soll heißen: Wer macht wem die meisten Zugeständnisse? Bisher steht lediglich der Entschluss der bisherigen Fraktionschefs, dass nur einer zum Nachfolger Jean-Claude Junckers gewählt werden soll, der auch Spitzenkandidat war. Demnach ginge es nur um Weber oder Timmermans.
Postengeschachere
Parallel dazu führt Ratspräsident Donald Tusk, dessen Job selbst zum Postengeschachere dazu gehört, Gespräche mit den Staats- und Regierungschefs. Das ist nicht ganz einfach, weil in mehreren Mitgliedstaaten gerade aus Wahlen neue politische Konstellationen hervorgehen: In Dänemark wurde der liberale Premier durch einen Sozialdemokraten abgelöst, in Belgien dürfte dies ebenfalls bevorstehen. Auch in Finnland steht wohl bald ein Sozialdemokrat an der Spitze des Landes. In Griechenland und Österreich wird allgemein ein christdemokratischer Wahlsieg erwartet. Polen stimmt im Herbst ab. Tusk traf in dieser Woche den sozialistischen spanischen Premier Pedro Sanchez, der auf einen Topjob für sein Land pocht. Danach war der portugiesische Sozialist Antonio Costa dran.
Am Freitagabend setzten sich zum ersten Mal jene sechs Regierungschefs zusammen, die der EU-Gipfel mit der Namensfindung beauftragt hatte. Trotzdem sieht es nicht so aus, als werde Tusk bereits beim nächsten Treffen am 21. Juni einen fertigen Vorschlag präsentieren können. Die Rede ist jetzt von einem zusätzlichen Meeting der Staatenlenker im Juni. Genau genommen kommt das aber zu spät. Denn die Europa-Abgeordneten wählen schon am 2. Juli bei ihrer konstituierenden Sitzung in Straßburg einen Parlamentspräsidenten. Würde das ein Deutscher (wonach es nicht aussieht) oder ein Christdemokrat, hätte dies Einfluss auf die übrigen Top-Positionen der EU. Zwei Führungspersönlichkeiten aus dem gleichen Land oder der gleichen Parteienfamilie gelten als eher unwahrscheinlich.
Unter Zeitdruck
Weber, der eigentlich als Chef der Mehrheitsfraktion im Abgeordnetenhaus für die Kommissionsspitze gesetzt ist, gerät also unter Zeitdruck. In der kommenden Woche will er mit den übrigen Fraktionen verhandeln, um herauszufinden, welchen politischen Preis er zahlen muss, um deren Unterstützung und damit eine Mehrheit zu bekommen, die auch die Staats- und Regierungschefs nicht übergehen könnten. Die Sozialdemokraten ließen sich, so wird in Brüssel spekuliert, wohl mit umfassenden sozialpolitischen Zusagen wie einem europäischen Mindestlohn ködern. Und die Grünen werde man vielleicht durch eine europäische CO2-Steuer überzeugen – allerdings bekäme Weber damit Probleme in den eigenen Reihen. Die Christdemokraten lehnen diese Vorstöße ab - bisher.
Andererseits ist nicht absehbar, was Sozialdemokraten, Grüne und/oder Liberale versprechen könnten, um die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) dazu zu bringen, Weber als eigenen Mann fallenzulassen. „Das ist undenkbar“, betonte ein EVP-Vorstandsmitglied gegenüber unserer Zeitung. Zumal alle Beteiligten wissen: Die erfreulich gestiegene Wahlbeteiligung (EU-weit: 51 Prozent plus sieben, Deutschland: 61,4 Prozent, plus 13,3) verpflichtet die Betreiber des Personalkarussells noch mehr, die demokratische Willensbildung zu beachten. Und die hat nun einmal einen Wahlsieger ergeben – und damit auch einen Spitzenkandidaten, der als potenzieller nächster Kommissionspräsident vom Volk gewählt wurde.