Das Geiseldrama von Gladbeck stellt eine Zäsur dar. Nie zuvor war die Hemmungslosigkeit der Journalisten, die Sensationsgier der Schaulustigen und die Hilflosigkeit der Polizisten größer, heißt es noch 25 Jahre später. Professor Frank Schwab, Inhaber des Lehrstuhls für Medienpsychologie am Institut Mensch – Computer – Medien der Universität Würzburg, erläutert, warum man die Bilder von damals nicht vergisst, was zu diesen bis heute unbegreiflichen Verhaltensweisen, auch die der beiden Geiselnehmer, geführt hat, und wie heute die mediale Macht der Bilder gezielt von Terroristen eingesetzt wird.
Frage: Welche Bilder sind Ihnen vom Gladbecker Geiseldrama in Erinnerung geblieben?
Frank Schwab: Für mich ist das prägnanteste Bild, wie einer der Täter mit der jungen Frau im Fluchtauto sitzt und ihr die Waffe an den Hals hält.
Warum?
Schwab: Es ist die Situation, die Nähe von Täter und Opfer – und es ist der Gesichtsausdruck des Opfers. Dieses Bild zeigt ja eine dramatische Zuspitzung der Bedrohung. Es gibt aber noch ein weiteres Bild, das mir zum Geiseldrama von Gladbeck immer wieder einfällt. Es zeigt die große Menschenmenge, die sich in der Fußgängerzone von Köln um das Fluchtauto schart – eigentlich eine verrückte, eine absurde Situation. Was tun diese Leute da? Diese Frage stellt sich mir bis heute.
Warum vergisst man diese Bilder nicht?
Schwab: Wir merken uns von vielen Nachrichteninformationen, die täglich auf uns einströmen, häufig nur eine: meist die Wettervorhersage. Das Geiseldrama von Gladbeck hat sich aber – wie auch der Terroranschlag vom 11. September – aufgrund der emotionalen Wucht ins Gedächtnis gebrannt. Heftige Gefühle lassen Bilder und Geschehnisse ins Langzeitgedächtnis wandern, vor allem auch dann, wenn eine Nachricht über ein Ereignis über mehrere Tage in der Berichterstattung auftaucht – und wenn es einen Ereignisverlauf gibt, eine Geschichte, eine Dramaturgie. Bei Gladbeck war sie hochdramatisch. Hinzu kommt, dass das Geiseldrama nicht irgendwo auf der Welt stattfand, sondern im eigenen Land. Diese Art der Bedrohung hatte also eine unheimliche Nähe und Präsenz.
Die Dramaturgie erinnert an einen Film, einen Krimi, der fiktiv ist, aber real sein könnte.
Schwab: In der Psychologie wird dies unter dem Begriff Realitätsfunktionsunterscheidung diskutiert. Das ist ein sehr komplexer Prozess. Nehmen wir einen Film. Er ist Fiktion. Wenn er sehr realistisch aufbereitet ist, dann könnte die Geschichte auch in der Realität so passieren oder die Figuren tatsächlich so agieren. Bei Gladbeck hatten wir ein reales Ereignis, aber es erinnerte an eine Filmdramaturgie. Deshalb wurden Zuschauer immer wieder an ein Roadmovie oder einen Krimi erinnert. Sie stellten Beziehungen her, hatten Erinnerungen an bereits Gesehenes – auf der bewusst rationalen Ebene haben sie Fiktion und Realität sicher selten verwechselt, es mag sich aber emotional doch hin und wieder wie ein Filmgeschehen angefühlt haben.
Wurden die Täter in diesem realen Ereignis von der surrealen Dramaturgie überrollt? Journalisten hatten ihnen ja zu Popularität verholfen und so ein Gefühl von Wichtigkeit vermittelt.
Schwab: Dieses Gefühl der Wichtigkeit wirkt auf die Selbstwertregulierung. Jemand ist wichtig, wenn er Ansehen besitzt – im Sinne von angesehen werden. Die Täter von Gladbeck sind schlagartig in das Interesse von Millionen Menschen gerückt, ebenso die Journalisten. Plötzlich richteten sich so viele Augenpaare auf sie, wie dies im normalen Leben kaum vorkommt. Diese Art der Aufmerksamkeit beeinflusst die Selbstwertregulierung, Psychologen sprechen in diesem Fall von Narzissmus. Die Täter kamen sich vermutlich monströs mächtig, stark und dominant vor. Das erklärt auch ihre unwirklichen Verhaltensweisen. Sie waren ja zum Teil sehr unvorsichtig und einfach nur überheblich dumm.
Wie war es bei den Journalisten?
Schwab: Bei ihnen war es ähnlich wie bei den Tätern. Auch sie sind in eine Situation geraten, in der über ihren Köpfen ein Tsunami an Aufmerksamkeit zusammenschlug, ein enormes Interesse. Und dies hat womöglich bewirkt, dass die Frage der Moral bei einigen an die dritte oder vierte Stelle gerückt ist oder überhaupt nicht gestellt wurde. Sie hatten plötzlich die Möglichkeit, ein Millionenpublikum mit ihren Geschichten und Bildern zu erreichen, eine einmalige Chance. Nur so ist es zu erklären, dass das Gesicht des schwer verletzten angeschossenen Jungen absichtlich in die Kamera gehalten wurde, oder dass ein Journalist den Täter Dieter Degowski gebeten hat, noch einmal die Knarre an den Hals von Silke Bischoff zu halten, damit er ein besseres Foto machen kann. Es war ein narzisstischer Rausch, der sich einstellt, wenn man sich plötzlich als so derart wichtig erlebt. Man macht dann die absurdesten Dinge. Wenn man länger reflektieren würde, ist den meisten Menschen klar, dass sie moralisch gesehen völlig danebenliegen.
Könnte Gladbeck heute wieder so passieren?
Schwab: Das Geiseldrama ist ein abschreckendes Beispiel – für die Polizei wie für die Journalisten. Beide Seiten haben aus ihren Fehlern gelernt, es wurden neue Verfahrensweisen und Richtlinien entwickelt, die ein zweites Gladbeck unterbinden helfen.
Heute besteht die Möglichkeit, durch die sozialen Netzwerke Nachrichten und Bilder in Echtzeit zu liefern, viel schneller als vor 25 Jahren.
Schwab: Es ist ein Unterschied, ob zwei professionalisierte Gruppen wie die Polizei oder die Journalisten in Krisensituationen ihren Job machen und dazu entsprechend ausgebildet und sozialisiert sind. Hier darf man hoch professionelles und ethisch orientiertes Verhalten einfordern. Nachrichten in sozialen Netzwerken werden nicht selten vom Mann oder von der Frau auf der Straße produziert. Das Phänomen der Gaffer ist zeitlos. Heute sind sie im Gegensatz zu früher mit Handy oder Smartphone ausgerüstet, sie haben also stets eine Kamera dabei. Das Schaulustbedürfnis und diese berühmten 15 Minuten Ruhm, die jeder erringen kann, wenn er ungeprüft und unreflektiert seine Aufnahmen ins Internet stellt, gehören zur dunklen Seite der neuen Technologie.
Gibt es nicht auch eine helle Seite?
Schwab: Natürlich profitiert die Welt auch durch diese Möglichkeiten der medialen Kommunikation. So konnten wir zum Beispiel den Beginn des „Arabischen Frühling“ live miterleben.
Wir können aber auch Tiefpunkte miterleben wie die Aufnahme eines Mörders mit blutigen Händen kurz nach der Tat – wie kürzlich in London.
Schwab: Natürlich interessieren wir uns als soziale Wesen für Dinge wie Macht, Sexualität, Tod und Gewalt und reagieren darauf stark emotional. Dazu gehören schlimme Verbrechen ebenso wie der eher harmlose Tratsch und Klatsch über Ereignisse um die Ecke. Diese Neugierde gehört zur Grundstruktur des Menschen. Wären wir eine Gesellschaft voll kalter rationaler Automaten, dann wäre das nicht so.
Manche Medien übernehmen auch Privatbilder von Terrorakten wie dem Anschlag von Boston.
Schwab: Dieses Beispiel zeigt, dass Bilder von Gewalt gezielt ausgenutzt werden. Die Bombenleger von Boston wussten – wie der norwegische Attentäter Breivik – dass es Bilder geben wird, die um die Welt gehen. Viele Terroristen planen das mit ein und versuchen, bestimmte Bilder in die Medien zu bekommen, um eine stärker politische Wirkung zu erzielen. Sie gehen wesentlich intelligenter und planvoller vor als die Täter von Gladbeck. Die beiden waren wohl eher überrascht, überwältigt und überfordert von dieser realen und medial überhöhten, bizarren Form der Zuwendung.