Auf einem Zahnarztstuhl zu sitzen und darauf zu warten, dass sich die spitzen Gerätschaften unbarmherzig dem Mund nähern, empfinden viele bereits als Horror. Doch wenn der Bohrer tatsächlich als Folterwerkzeug benutzt wird, verwandelt sich eine klassische Angstvorstellung in Realität – so ist es den Patienten des sogenannten „Zahnarztes des Grauens“ ergangen.
Weil er Dutzenden Menschen unnötige Schmerzen zugefügt und Kosten verursacht, sie verstümmelt statt geheilt sowie Krankenkassen und Versicherungen betrogen hat, verurteilte ein Gericht im französischen Nevers den Niederländer J. M. Van Nierop am Dienstag zu acht Jahren Gefängnis und 10 500 Euro Geldbuße. Außerdem darf der 51-Jährige nie wieder den Zahnarzt-Beruf ausüben. Geklagt hatten 120 Betroffene.
„Schlächter“ und „Sadist“
Mit der hohen Haftstrafe folgte das Gericht dem Antrag der Staatsanwältin Lucile Jaillon-Bru. Sie warf ihm im Prozess Habgier und sadistische Neigungen vor. Seine früheren Patienten, die ihn als „Schlächter“ und „Sadisten“ bezeichnet hatten, reagierten zufrieden. „Endlich werden wir als Opfer anerkannt“, sagte Nicole Martin, Vorsitzende eines Bündnisses von Geschädigten. „Wir sind keine Spinner!“
Dabei hatten sie 2008, als Van Nierop mithilfe von Subventionen des Regionalrates seine Praxis in Château-Chinon eröffnete, solchen Respekt vor ihm. Wie in vielen ländlichen Gebieten herrschte seit Jahren Ärztemangel in dem 2400-Seelen-Dorf im Burgund und als ein niederländischer Headhunter den jovialen Mediziner anwarb, empfing man ihn enthusiastisch.
Doch bald begannen die Probleme. Van Nierop tötete die Nerven gesunder Zähne ab, setzte Brücken und Kronen fehlerhaft ein, provozierte Infektionen. Einer Frau zog er acht Zähne an nur einem Tag, um 8000 Euro dafür zu kassieren, eine andere brauchte nach einer Behandlung ein komplett neues Gebiss. Sie sei eigentlich nur wegen Karies zu Van Nierop gegangen, berichtete die 36-jährige Géraldine Letot im Prozess: „Ein paar Sitzungen später taten mir 13 Zähne weh.“
Schreckliche Schilderungen
Doch der Angeklagte zeigte sich gleichgültig gegenüber diesen schrecklichen Schilderungen. Er erinnere sich nicht an die Patienten, erklärte er unumwunden und habe sich nicht für die Leute interessiert. Psychologen bescheinigten ihm eine „narzisstische Persönlichkeit“ und das Fehlen von Mitgefühl. Einer ehemaligen Mitarbeiterin zufolge war sein klares Ziel, möglichst viel Geld zu scheffeln. Van Nierop führte einen luxuriösen Lebensstil, lebte in einem großen Anwesen mit Privatschwimmbad, liebte Zigarren und guten Wein. Er stellte überhöhte Rechnungen aus, deklarierte nie ausgeführte Leistungen – und verdiente der regionalen Versicherungskasse zufolge rasch das Dreifache von Zahnärzten in der Region.
Als sich die Klagen und Unregelmäßigkeiten bei Abrechnungen häuften, leitete die Staatsanwaltschaft 2013 Ermittlungen ein. Einige Monate später floh Van Nierop nach Kanada, wo er 2014 festgenommen und nach Europa ausgeliefert wurde.
Die Frage der Entschädigung für die Opfer wird erst bei einem weiteren Gerichtstermin im Juni geklärt. Es dürfte wohl ein Entschädigungsfonds einspringen – denn der Verurteilte ist insolvent. Seine Arzt-Versicherung hat den Vertrag nachträglich annulliert: Zum Zeitpunkt des Abschlusses hatte Van Nierop behauptet, in seiner niederländischen Heimat laufe keine Strafverfolgung gegen ihn. Doch das stellte sich als Lüge heraus.