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Kein trautes Heim

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    Heimorgel und Krippe:  Was wirkt wie ein Heile-Welt-Wohnzimmer, ist in Wahrheit ein geschlossenes Heim. Vanessa an der Orgel soll nicht erkannt werden.
    Heimorgel und Krippe: Was wirkt wie ein Heile-Welt-Wohnzimmer, ist in Wahrheit ein geschlossenes Heim. Vanessa an der Orgel soll nicht erkannt werden. Foto: Fotos: Daniel Biscan

    Das Kind klimpert auf der Heimorgel ein Weihnachtslied. Es ist „Leise rieselt der Schnee“; die rechte Hand geht schon gut, die linke noch nicht. Das Kind hat schmale, feingliedrige Finger, es sitzt sehr aufrecht auf der Klavierbank und manchmal schaut es aus auffallend großen Augen unter langen, dunklen Wimpern in den Raum, schaut auf gemütliche Sitzecken, auf Bücherregale, die vollgestopft sind mit Kinderbuchklassikern und Sachbüchern, in denen erklärt wird, warum Flugzeuge fliegen und wie man seinen Hund bürstet.

    „Ich freue mich auf Weihnachten“, sagt das Kind. Gerade hat es sein wichtigstes Weihnachtsgeschenk fertig gebastelt; dafür hat es eine Platte rot angemalt, mit Perlchen beklebt und mit Buchstaben. „I love you“, steht drauf; das Geschenk soll die Mutter bekommen. Das Kind – ein Mädchen, 12 Jahre – sagt, es werde bestimmt „wunderschön“ sein, die Feiertage gemeinsam mit der Mutter, dem Stiefvater, der kleinen Schwester zu verbringen.

    Wie geht die Geschichte weiter über Weihnachten? So normal, so banal normal, wie sie begonnen hat? Mit Umarmungen, Liedern, Christbaum, Geschenken? Sicher nicht. Nicht umsonst lebt das Kind seit Monaten nicht zu Hause, sondern in der Würzburger „Clearingstelle“, einem geschlossenen Heim zur Erziehungshilfe. Das Heim mit den gemütlichen Sitzecken und den Kinderbuchklassikern im Holzregal hat nur sechs Plätze und es nimmt ausschließlich Kinder bis 14 auf, Kinder mit „massiven dissozialen und delinquenten Verhaltensweisen“. Kinder wie die hübsche, feingliedrige Vanessa mit den auffallend großen Augen.

    Vanessas Name ist in diesem Text geändert; vielleicht ist das Kind in Wirklichkeit blond und nicht dunkel. Der Leiterin der Clearingstelle, Michaela Holler, ist es extrem wichtig, dass „ihre Kinder“ nicht erkannt werden. Um diese Kinder zu schützen und ihre Betreuer, die der Geheimhaltungspflicht unterliegen, werden jetzt, wenn es darum geht, wie die Geschichte sich über die Weihnachtsfeiertage entwickelt, auch nur Möglichkeiten genannt und keine Wahrheiten.

    Es könnte zum Beispiel sein, dass Vanessa nach Hause fährt, zu ihrer heiß vermissten Mutter, für die sie das Geschenk gebastelt hat und deren Fotos sie mit sich herumträgt – und dass diese Mutter sie angiftet, vielleicht schlägt, ins Gesicht, beim kleinsten Anlass, selbstverständlich auch an Heiligabend. Warum nicht? Vanessa wird sich darüber nicht wundern, denn sie ist, wie ihre kleine Schwester, Schläge gewöhnt. „Die Kinder lieben ihre Eltern trotzdem, das tun sie immer. Egal, was die Eltern den Kindern antun. Es zerreißt einem manchmal das Herz“, sagt Michaela Holler. Vielleicht malt sich Vanessa im Vorhinein nur aus, dass Weihnachten „wunderschön“ sein wird und verdrängt die Erinnerung an letztes Weihnachten, an dem es besoffenes Geschrei gab und Türenknallen und Gerede über Gerichtsvollzieher und Zwangsräumung.

    Es könnte auch sein, dass Vanessa nach Hause fährt, den rotbemalten Liebesbeweis im Köfferchen – und dass die schwer depressive Mutter während der ganzen drei Tage, die Vanessa daheim ist, im Bett liegen bleiben wird und sich weder für das Geschenk interessieren wird noch für das Kind. Eine Mutter, die nicht die Kraft hat, ihrem Kind Aufmerksamkeit zu schenken, hat erst recht nicht die Kraft, einen Weihnachtsbaum zu organisieren und Geschenke in Geschenkpapier zu wickeln. An Weihnachten gibt es Fernsehen, und wenn der Stiefvater nüchtern genug ist, um zu kochen, auch „Nudeln mit Maggi“. Das ist Vanessas Lieblingsgericht; nie hat sie zu Hause etwas Besseres gegessen.

    Ob Prügel oder Depressionen – beide Versionen der Geschichte entspringen nicht der Fantasie. Sie spiegeln vielleicht nicht ausgerechnet die Lebenswirklichkeit der feingliedrigen Vanessa wider, aber sie bilden Familienhintergründe ab, wie sie „dissoziale und delinquente“ Kinder oft in die Clearingstelle mitbringen. Kinder, die hier landen, haben nicht selten drogensüchtige Eltern, geistig behinderte Eltern, kriminelle Eltern, antriebsarme Eltern – Eltern, die es jahrelang nicht schaffen, ihr Kind im Kindergarten anzumelden, Eltern, denen nicht auffällt, wenn das Kind nicht spricht. Berichtet wird von der schizophrenen Mutter, die mit der Versorgung ihrer Tochter komplett überfordert ist und es zulässt, dass ihr Kind auf der Straße lebt, klaut, mit dreizehn Jahren mit Männern schläft. Nicht wegen des Geldes, sondern wegen einer Übernachtungsmöglichkeit, manchmal wegen einer Pizza. Weil aber nichts im Leben so einfach ist wie es scheint und Schuldzuweisungen an Eltern nicht immer Sinn machen, berichtet die Leiterin der Clearingstelle auch von „bemühten, liebevollen, guten Eltern“, die alles getan haben, um ihrem Kind zu helfen und nichts, um ihm zu schaden – und die trotzdem das geliebte Kind samt Plüschtier in die Clearingstelle bringen mussten. Weil das Kind, neun Jahre alt, ein Junge, bei einem seiner Wutanfälle vier seiner Mitschüler krankenhausreif geschlagen hatte.

    Laut Professor Marcel Romanos, dem Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Würzburg, in dessen Zuständigkeit auch die psychiatrische Untersuchung der Kinder in der Clearingstelle fällt, sind in Bayern 20 Prozent aller Kinder psychisch „auffällig“, zehn Prozent „psychisch gestört“. Es gibt unter uns also etliche Familien, in der ein Kind, belastet durch ADHS und daraus resultierendem Schulversagen, aus Frust seine Mitschüler angreift, mobbt, prügelt. Es gibt immer wieder Familien, die auseinanderbrechen, und Kinder, die, des Halts beraubt, zeitweise klauen, Schule schwänzen, abhauen. Bei manchen Familien hilft Familientherapie oder Betreuung durch die Jugendhilfe; bei vielen Kindern hilft Schulberatung und ein Schulwechsel, helfen kinderpsychiatrische Diagnostik und Therapie. Bei den sechs Kindern aber, bei Vanessa und Dinah, bei Tom, Emre, Maxi und Ferdinand, die jetzt gerade um den großen Tisch der Clearingstelle herumsitzen und Frikadellen essen, haben sämtliche niederschwelligen Angebote, die bayerische Behörden bereithalten, nicht geholfen. „Schulberatung kann nur dann helfen, wenn das Kind auch kommt. Familienhilfe funktioniert nur, wenn die Helfer auch ins Haus gelassen werden“, sagt Professor Gunter Adams, der Leiter der Evangelischen Kinder-, Jugend- und Familienhilfe, in dessen Zuständigkeit die Clearingstelle fällt. Vanessa und Dinah, Tom, Emre, Maxi und Ferdinand (Namen geändert) sind alle aufgrund eines Gerichtsbeschlusses in die geschlossene Würzburger Einrichtung eingewiesen worden. Bei allen, sagt Adams, habe hohe „Selbst- oder Fremdgefährdung“ bestanden.

    Vanessa ist abgehauen. Ob bei ihr nun eine depressive, eine prügelnde oder eine extrem antriebsarme Mutter den Ausschlag dafür gab – klar jedenfalls ist, dass sie es nicht ausgehalten hat zu Hause. Sie fand Freunde, die sie mitnahmen an Orte, an denen zwölfjährige Mädchen sich nicht aufhalten sollten. Lungerte an Tagen und in Nächten am Hauptbahnhof herum, trug Nasenpiercing und Schminke, trank Bier und umklammerte mit schmalen, langgliedrigen Kinderfingern Zigaretten. Blickte aus auffallend großen Augen unter dunklen Wimpern auf Männer, die zurückblickten. In die Schule ging sie nicht mehr, monatelang nicht.

    Leicht fällt Vanessa der Neustart in der Clearingstelle nicht. Es gibt jeden Tag warmes Essen und jeden Tag Schule, unten im Haus; es gibt Bücher zur freien Verfügung, aber es gibt auch Regeln: „Kein Fernsehen. Wir dürfen nur DVDs gucken, DVDs für Kinder ab sechs!“, sagt Vanessa. Am Dienstag darf sie reiten, am Freitag macht sie mit dem Erzieher Ausflüge auf den Bauernhof; beides findet sie „supercool“. Trotzdem ist sie auch aus der Clearingstelle schon zweimal abgehauen, an den Hauptbahnhof, wohin sonst. Was sie dort gesucht hat? „Weiß ich nicht“, sagt das Kind. „Vielleicht Freiheit.“ Ein großes Wort, ein schwammiges Wort. Was genau hat ihr gefehlt? „Wenn man so lange geraucht hat wie ich, dann braucht man eben mal eine Zigarette“, sagt das Kind. Über Weihnachten ist das Kind jetzt zu Hause, drei Tage, zwei Nächte. Man missgönne den Kindern die Freude auf die Familie nicht, sagt Michaela Holler, aber man habe doch immer Angst. Es komme vor, dass drei Weihnachtstage zu Hause die Bemühungen von vielen Wochen Erziehungsarbeit zunichte machten.

    Das Kind sagt, an Weihnachten wolle es seine früheren Freunde nicht mehr treffen, gewiss nicht. Es schaut seine Gesprächspartner offen an, mit auffallend großen Augen. Es kann sein, dass die großen Augen die Folge einer Krankheit sind, die, bis das Kind in die Clearingstelle kam, nie erkannt wurde.

    Die Clearingstelle

    Die Evangelische Kinder- und Jugendhilfe betreibt mit der Würzburger Clearingstelle eines der wenigen geschlossenen Heime für Kinder bis 14 Jahre in Deutschland. Weitere Clearingstellen dieser Art gibt es nur noch in Regensburg und in Hallbergmoos. Diese drei Einrichtungen mit zusammen 20 Plätzen widmen sich speziell Kindern mit massiv dissozialen und delinquenten Verhaltensweisen. Es ist kein Zufall, dass alle drei geschlossenen Heime in Bayern liegen – anders als andere Bundesländer setzt Bayern bei strafunmündigen Kindern mit massiven Problemen auf geschlossene Unterbringung. Ihr muss ein Gerichtsbeschluss vorausgehen. Die Unterbringung in der Clearingstelle ist auf sechs Monate begrenzt.

    „Unser Ziel ist es, Kindern zu helfen, die sich der herkömmlichen Diagnostik entziehen“, sagt Professor Gunter Adams, Leiter der Evangelischen Kinder- und Jugendhilfe Würzburg. Ärzte, Pädagogen und Lehrer arbeiteten eng zusammen, um zu klären, was die Kinder zu ihrem massiv selbst- oder fremdgefährdenden Verhalten gebracht habe, welche gesundheitlichen Störungen vorlägen und mittels welcher Therapie für das Kind Perspektiven für ein besseres Leben geschaffen werden könnten.

    Seit Gründung der Clearingstelle im Würzburger Stadtteil Grombühl im Jahr 2003 wurden dort über 100 junge Menschen betreut. „Wir haben viele Erfolgsgeschichten, auf die wir stolz sind“, sagt die Leiterin der Clearingstelle, Michaela Holler. Die Betreuung in der Clearingstelle ist intensiv. Das Mitarbeiterteam besteht aus sechs Erziehern, zwei Psychologen, einem Sozialpädagogen, drei Lehrern und einem beratenden Kinderpsychiater. TEXT: GRR

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