Der Gurt wird um den Bauch gelegt, manchmal auch zusätzlich um beide Handgelenke. Er fesselt die Menschen an ihr Bett, an einen Rollstuhl oder einen Sessel. So könnten sie nicht fallen, sich nicht mehr verletzen, argumentieren die einen. So werde ihnen das letzte bisschen Freiheit genommen, das letzte Stück Menschenwürde, sagen die anderen.
Rund 100 000 Mal pro Jahr genehmigen deutsche Gerichte sogenannte freiheitsentziehende Maßnahmen: Gurte, Bettgitter oder auch Medikamente, die alte, pflegebedürftige Menschen schützen sollen, die sie aber auch massiv in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken.
21 266 solcher Entscheidungen wurden im Jahr 2011 in Bayern getroffen. Das sind schon 14 Prozent weniger als noch im Jahr zuvor. Aber es sind, das findet auch Justizministerin Beate Merk, noch immer zu viele. „Auch wenn der Gedanke, der hinter einer Fixierung steht, einer guten Absicht entspringt: Diese Maßnahmen sind massive Eingriffe für die Betroffenen“, sagt die Ministerin. Deshalb will sie die Zahl solcher Gerichtsentscheidungen weiter senken. Eine Methode, um das zu schaffen, haben Juristen und Pflegekräfte in Garmisch-Partenkirchen entwickelt.
Unter dem Titel „Werdenfelser Weg“ verbreitet sich ihre Idee seit 2007 nach und nach in ganz Bayern. Ministerin Merk bezeichnete die Methode als „einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität alter und kranker Menschen“. Viele Gemeinden sind schon aufgesprungen, Gerichte in München, Nürnberg und Kempten beteiligen sich. Seit dieser Woche ist auch das drittgrößte bayerische Amtsgericht in Augsburg ganz offiziell dabei und in Unterfranken haben sich die Haßberge als erster Landkreis für den „Werdenfelser Weg“ entschieden.
Immer, wenn ein Richter über die Genehmigung von Gittern, Fesseln oder Pillen für Pflegebedürftige entscheidet, wird auch ein speziell geschulter „Verfahrenspfleger“ eingeschaltet – ein Pflegeexperte, der prüft, ob nicht auch Alternativen zur Fixierung möglich sind. „Wir haben zwei erfahrene Pfleger, die diese Arbeit übernommen haben“, sagt Joachim Mattheus vom Landratsamt Haßberge. Sie prüfen einfache Alternativen. Niedrigere Betten oder Anti-Rutsch-Einlagen verringern die Gefahr von Verletzungen bei Stürzen ebenso wie Hüftprotektoren oder Sturzhelme. All diese Dinge kann ein Richter zwar nicht vorschreiben. Er kann aber, wenn sie nicht da sind, die Genehmigung zur Fixierung verweigern – weil noch nicht alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind.
Im Landkreis Haßberge wird der „Werdenfelser Weg“ seit Anfang Mai verfolgt, aber Zahlen gebe es noch nicht, erklärt Mattheus. „Wir müssen jetzt erst einmal gucken, dass auch alle Heime mitmachen.“ Daten gebe es dann in einem halben Jahr. „Aber wir erwarten, dass sich die richterlichen Genehmigungen signifikant reduzieren“, so Mattheus.
In Würzburg gibt es noch keine formellen Bestrebungen in dieser Richtung. „Es spricht ja nichts gegen Alternativen, aber das ist Sache der Betreuer, nicht des Gerichts“, sagt Rainer Beckmann vom Amtsgericht Würzburg. Joachim Mattheus ist aber sicher, dass sich das Modell verbreiten wird: „Es ist eine gute Sache, es muss nur einer den Anstoß geben.“ Auch der Münchner Pflege-Kritiker Claus Fussek, der nicht leicht zu begeistern ist, findet für das Modell „Werdenfelser Weg“ und die Anstrengungen des bayerischen Justizministeriums nur lobende Worte. Eine „großartige Initiative“ sei das, sagt er, und „wieder einmal“ der Beweis dafür, dass es genügend Alternativen gibt zur Fixierung. Und er sagt: „Wenn Zirkuselefanten angekettet werden, empört sich die Gesellschaft. Wir müssen erreichen, dass für alte Menschen dasselbe gilt.“ Mitarbeit von Max Koch
Freiheitseinschränkende Maßnahme
Fachliche Definition: Alle Maßnahmen, die die körperliche Bewegungsfreiheit einschränken und die nicht vom Betroffenen selbstständig entfernt werden können und/oder den Zugriff auf den eigenen Körper verhindern.
Freiheitseinschränkende Maßnahmen FeM
Zu den sogenannten körpernahen Maßnahmen gehören Gurte an Rumpf und Armen oder Füßen. Aber auch Tischsteckbrette oder bestimmte Leibchen sowie Bandagen.
Zu den nicht körpernahen, aber trotzdem freiheitseinschränkenden Maßnahmen werden Bettgitter, verschlossene Türen, festgestellte Rollstuhlbremsen und die Wegnahme von Gehhilfen oder Kleidung gezählt.
Eine weitere offizielle FeM ist die „chemische Fixierung“, bei der den Patienten Psychopharmaka mit freiheitseinschränkender Wirkung verabreicht werden. TEXT: MX