Frauen durften bei den antiken Olympischen Spielen nicht zuschauen? Stimmt halb. Sie durften nicht mitmachen? Stimmt nicht. Da machten nur Amateure mit? Stimmt gar nicht. Pierre de Coubertin hat die Olympischen Spiele wiederbelebt? Falsch.
Schau die alten Griechen an, mit ihren Göttern, Helden, Philosophen, Politikern und Künstlern! Vordenker der europäischen Kultur und Demokratie, Stichwort- und Ideengeber für Moral und Religion! Schöpfer ewiger Sagen und Architektur! Erfinder der Olympischen Spiele! Was für ein edler Menschenschlag, möchte man meinen.
Dabei waren die alten Griechen untereinander zerstritten, trugen ihre Streitigkeiten allzu oft auf Schlachtfeldern aus. Nicht einmal in den großen Kriegen gegen die Perser waren sie sich einig. Das antike Griechenland war keine Nation, sondern eine Ansammlung souveräner Stadtstaaten, allzeit bereit, sich miteinander zu messen und gegenseitig zu schlagen. Selbst in ihren Mythen versuchten die Griechen, einander zu übertrumpfen. Hatten die Spartaner den unglaublichen Herakles, schufen die Athener den gewaltigen Theseus.
Die Mythen – die Sagen von Göttern und Helden, Titanen, Nymphen, Musen und Ungeheuern – waren in der Antike untrennbar mit dem Alltag der Menschen verbunden. Göttliche Wesen waren allgegenwärtig. Sie waren Mittel zur Macht: Wollten Politiker die Identifikation ihrer Untertanen mit dem Stadtstaat stärken, schufen sie Heroen, die sie den Bürgern als Stammväter präsentierten.
Der Würzburger Archäologieprofessor Ulrich Sinn sagt, Mythen seien wesentliche Teile der Inszenierung der antiken Gesellschaft gewesen. Das politische System habe darauf basiert, dass die Bürger „die imaginäre Autorität der sakralen Aura akzeptierten“. Auch um die Furcht vor Strafe aufrechtzuerhalten, hätten sie die Götter geschaffen. Im Verständnis der Griechen sprachen nicht die Richter Recht; das taten die Götter. Richter dienten nur als Medium.
Olympia ist entstanden aus alten Mythen und gebar selbst stetig neue. Wie sie wirkten, lesen wir beispielsweise beim athenischen Publizisten Isokrates (436 bis 338 vor unserer Zeitrechnung). Er berichtet, als Alkibiades, der Staatsmann und Feldherr von Athen, „sah, dass die Festversammlung in Olympia von allen Menschen hoch geschätzt und bewundert wurde und dass die Griechen dort ihren Reichtum, ihre Körperkraft und ihre Erziehung zur Schau stellten, als er erkannte, dass die Athleten beneidet und die Heimatstädte der Sieger berühmt wurden, und da er der Meinung war, dass Leistungen, die man in der Heimstadt Athen vollbringt, zwar dem einzelnen jeweils bei seinen Mitbürgern Ansehen einbringen, dass aber die in Olympia erbrachten Leistungen den Ruhm der Heimstadt in ganz Griechenland vermehren, da wandte er sich der Pferdezucht zu“. Alkibiades schickte sieben Wagen ins olympische Rennen und, bilanziert Thukydides, ein Historiker und Zeitgenosse, „wurde nicht nur Sieger, sondern holte auch noch den zweiten und vierten Platz“.
Diesem Alkibiades, dem Spross einer angesehenen Familie aus Athen, einflussreich, begabt, ausgestattet mit einem, so schreibt Sinn in seinem Standardwerk „Das antike Olympia – Götter, Spiel und Kunst“, „geradezu betörenden Charme“, war der Erfolg in die Wiege gelegt. Dass dieser Mann meinte, mit einem spektakulären Auftritt in Olympia seiner Karriere einen weiteren, entscheidenden Schwung geben zu können, macht Sinn zufolge „schlagartig die exzeptionelle Rolle Olympias in der griechischen Welt deutlich“.
Die Olympischen Spiele waren zu wichtig, um Amateure antreten zu lassen. Die Sportler waren Profis, seit dem 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung organisiert in Berufsverbänden, ähnlich den Zünften, in denen sich in Deutschland die Handwerker organisierten. Sinn berichtet, in der Athener Verfassung sei festgeschrieben gewesen, dass ein Olympiasieger mit zwei durchschnittlichen Athener Jahresgehältern zu belohnen sei.
Das Heiligtum Olympia liegt am Rande Griechenlands, im Nordwesten der Halbinsel Peloponnes, in einer weit gestreckten Ebene. Zwei Flüsse fließen hier, Alpheios und Kladeos. Etwas abseits des Hauptweges durch die Kultstätte steht ein Säulengeviert, beschattet von hohen Mandelbäumen: die Palästra, das olympische Kulturzentrum. Hier lauschte vor zwei Jahrtausenden das Publikum in hörsaalartigen Räumen Philosophen und Gelehrten. Nebenan stellte Herodot sein Geschichtswerk vor. Danach, notierte später der syrische Satiriker Lukian, habe es in Griechenland niemanden mehr gegeben, dem Herodots Name fremd gewesen wäre. Auch Künstler waren in der Palästra zugange, sie stellten ihre Werke aus zu Betrachtung und Kauf. Olympia, sagt Sinn, der seit mehr als 40 Jahren vor Ort forscht, sei viel mehr als eine Sportstätte gewesen. Da kamen Götterverehrung und Geschäfte, Hochleistungssport, Wissenschaft und Zerstreuung zusammen – die Wettkämpfe waren die Attraktion des Kultfestes, das wie ein Volksfest, vergleichbar mit dem heutigen Kiliani, gefeiert wurde.
Und dann war da noch die Sache mit dem Fleisch. Die Griechen aßen es gerne, aber dass der Verzehr das Töten von Tieren voraussetzte, das empfanden sie als Sakrileg. Eine Entsühnung war nötig, die gab es nur in den Heiligtümern – die Kultfeste, sagt Sinn, seien die Gelegenheit gewesen, Fleisch zu essen. Und die Heiligtümer waren die Schlachthöfe von Hellas.
In keinem Heiligtum versammelten die alten Griechen mehr verehrungswürdige Übermenschliche als in Olympia. Im 2. Jahrhundert nach Christus dokumentierte der griechische Historiker Pausanias in Olympia 70 Altäre für 41 Gottheiten. Sinn spricht von einem „Sammelplatz der Götter und Heroen“. Wobei die Götter nicht Vorbilder waren wie nachfolgende monotheistische Gottheiten. Griechische Götter waren, abgesehen von übernatürlichen Kräften und Unsterblichkeit, durch und durch menschlich.
Bis zu 40 000 Zuschauer fasste das Stadion von Olympia. Auf den Rängen saßen und standen Männer jeden Alters und Familienstandes und unverheiratete Frauen. Verheirateten Frauen war der Besuch der Olympischen Spiele verboten. Grund: Olympia war unter anderem ein Kultplatz der Fruchtbarkeitsgöttin Demeter. Zu ihr brachten die Mütter ihre geschlechtsreif gewordenen Töchter, eine Priesterin führte die Mädchen in kultischen Riten in ihre künftige Rolle als Mütter ein. Diese Bevorzugung der Unverheirateten sei an Olympia haften geblieben, sagt Sinn. Bei ähnlichen Spielen in anderen Heiligtümern sei die Anwesenheit von Ehefrauen kein Problem gewesen.
In den Wettkämpfen durften sich nur männliche Griechen messen. Und dennoch ist auch eine Frau Olympiasiegerin geworden, 396 und 392 vor unserer Zeitrechnung: Kyniska aus Sparta. Natürlich aus Sparta. Euripides dichtete, die Spartanerinnen „mischten unter Jünglinge sich, die Hüften nackt / Und ihre Gewänder abgelegt, zu gleichem Spiel / Des Laufs und des Ringkampfs, eine Schmach wie mich dünkt“. Aristoteles kritisierte, sie seien „ungebunden in jeder Art von Zügellosigkeit und Ausschweifung“.
Kyniska startete im Rennen mit dem Fohlen-Viergespann. Sie durfte teilnehmen und gewinnen, weil nicht die Wagenlenker oder Reiter, sondern die Besitzer der Pferde als Sieger als Sieger ausgezeichnet wurden.
Sinn berichtet von einem entspannten Verhältnis der Hellenen zu ihren Körpern und ihrer Sexualität. Erst die Christen hätten Nacktheit und Homosexualität tabuisiert. Trotzdem sind die Athleten in den ersten olympischen Jahrhunderten mit Lendenschurz angetreten. Vom Chronisten Thukydides (454 bis etwa 399 vor unserer Zeitrechnung) wissen wir, es seien – natürlich – Spartaner gewesen, die sich als erste „öffentlich nackt auszogen und sich bei gymnastischen Übungen mit Öl einrieben“. Sinn widerspricht der gängigen Version, dass sie das taten, damit man Frauen erkenne, die sich unter die Sportler mogelten. In den Überlieferungen komme diese Erklärung nicht vor. Warum aber genau sie textillos in die Wettkämpfe gingen, weiß auch er nicht. In antiken Berichten findet der Archäologe unter anderem die Sage, ein Läufer sei, vom Lendenschurz behindert, gestürzt und um den Sieg – in einer anderen Fassung gar ums Leben – gekommen. Dem Wahrheitsgehalt traut er nicht, zu viel ist von Mythen überwuchert. Ohne Mär und Mythos plädierte dagegen Aristoteles für nudistischen Sport, weil ein Läufer in nacktem Zustande weniger schwitze als ein bekleideter. Außerdem bekämen diejenigen, „die im Sommer nackt laufen, auch eine bessere Farbe als die, die in Kleidern laufen“.
Im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen der Antike ist häufig vom „Gottesfrieden“ die Rede, dem Frieden während der Festzeit in Olympia. Das ist eine Fehlinterpretation. Sinn erklärt das so: Ein Heiligtum lud zu Kultfesten wie den Olympischen Spielen Gäste ein, ein Priester überbrachte die Einladung. Nahm der Eingeladene an, aktivierten Gast und Gastgeber in einem gemeinsamen Ritual das Gastrecht. Städte, die während der Spiele in Olympia zu Gast waren, hielten Frieden bis zum Ende des Festes.
Göttlicher Hausherr in Olympia war Zeus, der Lenker der Kriege. Zum Heiligtum gehörte auch sein Orakel, das allerdings anders arbeitete als das berühmte weissagende von Delphi. Sinn schreibt, die vom Göttervater inspirierten Seher hätten ihre Funktion „ganz überwiegend im ,Außendienst‘“ wahrgenommen. Sie waren nicht so unnahbar wie ihre Kolleginnen und Kollegen in anderen Heiligtümern: Sie zogen als olympische Feldherrenberater in die Schlachten. Ihrer Verbindung zu Zeus traute man zu, den richtigen Zeitpunkt für militärische Manöver zu ergründen. Das antike Olympia ist also kein Symbol für den Völkerfrieden.
Wie lächerlich kurz ist der Zeitraum, in dem die Menschheit die modernen Olympischen Spiele veranstaltet: 116 Jahre. Das Olympia der alten Griechen war schon im 12. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung ein Kultplatz, damals nur lokal bedeutsam und ohne sportliche Aktivitäten. Olympiasieger sind seit rund 2800 Jahren überliefert. Wann der Kult von Olympia endete, ist nicht gewiss. 391 verbot der christliche Kaiser Theodosius I. die Spiele, um heidnische Konkurrenz auszuschalten. Um 425 erneuerte Theodosius II. das Verbot, die Griechen parierten und stellten die Verehrung des Zeus und die ihm gewidmeten Wettkämpfe ein.
Einer der jüngsten der zahllosen Mythen rund um die Olympischen Spiele ist der, Baron de Coubertin habe sie im Jahr 1896 wiederbelebt. Tatsächlich wurden die ersten nach-antiken Olympischen Spiele in der englischen Grafschaft Gloustershire südlich von Birmingham ausgetragen. Die „Olimpic Games upon Cotswold-Hills“ währten von 1612 bis 1852. Ende des 19. Jahrhunderts war der französische Historiker Baron Pierre de Coubertin nur zur rechten Zeit am richtigen Platz, um in die Geschichtsbücher einzugehen. Die Arbeit hatten Griechen gemacht. Sinn berichtet, schon im Vorfeld des griechischen Unabhängigkeitskrieges gegen die Osmanen (1821 bis 1829) hätten Revolutionäre die Wiedereinführung Olympischer Spiele geplant, zur Stärkung des Zusammenhaltes unter den Hellenen. Aber erst 1859 sei das Unternehmen geglückt, und Evangelos Zappas war der Macher. Wie in den alten Tagen maßen sich griechische Männer im sportlichen und intellektuellen Wettstreit. 1870, 1875 und 1888/89, berichtet Sinn weiter, organisierte Zappas Cousin Konstantinos Zappas weitere Wettkämpfe. Die Spiele im Jahr 1896 waren lediglich die ersten, die unter der Ägide des Internationalen Olympischen Komitees standen, das Baron de Coubertin 1884 in Paris gegründet hatte.
Coubertin hatte den Griechen versprochen, die Spiele immer in Athen auszutragen, und er hat sein Versprechen gebrochen. Aber sein Verdienst ist, die Olympischen Spiele zu einem Fest gemacht zu haben, das um die Welt reist.
Beim Zeus, 3000 Jahre alt sind die Olympischen Spiele! Die olympische Flamme freilich ist ein ganz junger Mythos, geschaffen, um die Bedeutsamkeit und die Wirksamkeit der Spiele weiter zu erhöhen. Die Nazis haben ihn erfunden, 1936, für Olympia in Berlin.