Die deutsche Gesellschaft ist offener geworden gegenüber Fremden, aber die Politiker haben bis heute keine richtige Vorstellung davon, was man von den Fremden will und vor allem wie man mit ihnen umgeht.“ Der das sagt, ist Rafik Schami (69), syrisch-deutscher Schriftsteller und Chemiker. Im Interview spricht der Wahl-Pfälzer, der 1971 nach Deutschland auswanderte, über seine Bücher und Erzählungen sowie die aktuelle Flüchtlingsdebatte.
Frage: Herr Schami, ,Meine Religion ist die Liebe', schreiben Sie in Ihrem neuen Roman ,Sophia oder Der Anfang aller Geschichten'. Wie beurteilen Sie es, dass die religiöse Zugehörigkeit für viele Deutsche in der Aufnahmebereitschaft für Flüchtlinge keine Rolle zu spielen scheint?
Rafik Schami: Auf meinen vielen Veranstaltungen traf ich wunderbare Deutsche, die sich selbstlos für Flüchtlinge einsetzen, und da können Sie sicher sein, dass die Liebe sie dazu geleitet hat. Sie suchten niemals einen Vorteil für sich, sondern wollten diesen armen Menschen helfen. In solchen Augenblicken ist es dem Liebenden gleichgültig, welcher Religionsgemeinschaft er oder der Flüchtling angehört.
Sie wurden in Syrien selbst verfolgt – wie ließe sich Ihrer Meinung nach die Vertreibung von dort eindämmen oder gar verhindern?
Schami: Das ist genau der entscheidende Punkt, den die europäischen Politiker seit Ausbruch des Aufstands gegen den Diktator gemieden haben, zu diskutieren, geschweige denn, von ihm geleitet zu handeln. Manchmal vernebelt die Diskussion um die Flüchtlinge die Tatsachen. Deshalb muss man ein paar Eckdaten der Misere deutlich nennen. Diese Flüchtlinge kommen nicht aus dem Meer, sondern aus Syrien. Man ließ Länder wie die Türkei, Jordanien und den Libanon im Stich, die zusammen circa vier Millionen Flüchtlinge aufnahmen. Man ließ die Mörder auf die friedlichen Demonstranten schießen und Giftgas auf Zivilisten werfen. Und heute? Sind wirklich nur die Russen und Iraner die Schurken? Man weiß, dass Katar Terroristen finanziert – in Katar sitzt die größte US-Geheimdienstzentrale im Ausland –, Nuri al Maliki schickte als irakischer Ministerpräsident unter Aufsicht der Amerikaner seine Mörderbanden nach Syrien. Der Libanon, der seit dem Zweiten Weltkrieg nie eine Entscheidung ohne Genehmigung Frankreichs und der USA treffen durfte, lässt Truppen der Hisbollah über die Grenzen gehen und Syrer in ihren Dörfern umbringen.
Solange eine solche Heuchelei im Westen Politik genannt wird, wird es immer syrische Flüchtlinge geben.
Sie kritisieren auch das Clan-System arabischer Gesellschaften. Hatte der sogenannte Arabische Frühling dagegen eine Chance?
Schami: Ja, der Aufstand hatte eine große historische Chance gehabt, weil diese mutigen Demonstranten ihre Sippen, ihren Clan, nicht um Genehmigung gefragt haben, und weil das Ziel die Errichtung einer Republik war, die die Würde und Freiheit der einzelnen anstrebt und die Demokratie als Herrschaftssystem wollte. Dies wäre die Todesstunde der Sippe. Aber der Aufstand wurde in allen Ländern erwürgt.
Sie leben seit 1971 in Deutschland. Wie hat sich Ihres Erachtens Deutschland im Umgang mit Zuwanderern gewandelt?
Schami: Die deutsche Gesellschaft ist offener geworden gegenüber Fremden, aber die Politiker haben bis heute keine richtige Vorstellung davon, was man von den Fremden will und vor allem wie man mit ihnen umgeht. Auch europaweit herrscht Chaos. Das erstaunt mich angesichts der Heere von Experten und hoch dotierten Beratern ebenso wie US-Präsident Barack Obama, der gegen den IS nichts zustande brachte außer Drohnen.
In Ihren Erzählungen und Romanen entwerfen Sie ein freundliches Bild des Orients. Man hat Ihnen deshalb mitunter Verklärung vorgeworfen. Basiert Ihr Orient-Bild überhaupt auf Realität oder geht es um die Utopie einer toleranten Gesellschaft?
Schami: Wer das sagt, hat meine Bücher noch nicht gelesen und übernahm die gehässige Stichelei einiger Islamwissenschaftler, gescheiterter Übersetzer und Orientalisten, die mir seit Mitte der 1980er Jahre den Krieg erklärten, weil ich sie ertappte, dass sie mit den Kulturministerien der Diktaturen arbeiten. Die Kulturministerien sind, wie ein Kollege von mir es formulierte, ,Die kulturelle Abteilung des Geheimdienstes'. Diese Gegner verlängern im Hauptberuf den Arm der Diktatur. Von Literatur haben sie keine Ahnung. Was bleibt ihnen anderes übrig, als einem Exilautor hier auf Deutsch Beschönigung des Orients vorzuwerfen und in Damaskus antisemitisch zu behaupten, ich habe meine Erfolge weltweit, weil ich das Bild Syriens schlecht mache, um Juden zu gefallen? Diese Doppelzüngigkeit habe ich dokumentiert.
Aus Ihren Büchern und Auftritten spricht eine tief empfundene Humanität. Wirkt diese momentan in Deutschland?
Schami: Danke für die freundlichen Worte. Ich bin zutiefst dankbar gegenüber Deutschland, dem Land, das mich aufnahm und mir eine Sprache schenkte, durch die ich – in Übersetzung – 28 Sprachen erreichte. Auch meine Kunst, mündlich zu erzählen und nicht vorzulesen, die am Anfang belächelt wurde, hat inzwischen ein großes Publikum erreicht. Ja, Deutschland hat sich verändert, und die Deutschen nehmen viel sensibilisierter fremde Kulturen und Werte zur Kenntnis. Das Mitleid hierzulande für überwiegend syrische Bürgerkriegsflüchtlinge ist enorm und verblüffend im Vergleich mit der langen Gleichgültigkeit gegenüber afrikanischen Bootsflüchtlingen etwa auf Lampedusa.
Befürchten Sie ein Abflachen des Engagements?
Schami: Das ist nicht richtig, Flüchtlinge in Deutschland mit Flüchtlingen auf Lampedusa zu vergleichen. Hier gibt es nun eine Euphorie, die wird naturgemäß bald etwas ruhiger und das wünsche ich uns, dass wir nüchtern und verbindlich Fragen stellen, was eine Gesellschaft kann und was nicht. Und wie und was soll man den Flüchtlingen vermitteln? Je organisierter, systematischer, geduldiger und rationaler wir diese humanitäre Hilfe leisten, umso besser wird es uns und den Flüchtlingen gehen.
Sie leben seit langem in Deutschland und kennen die Entwicklungen hierzulande aus eigener Erfahrung. Wozu würden Sie zum Gelingen von Integration raten?
Schami: Die Haltung, den Fremden mit Respekt zu behandeln. Und im gleichen Atemzug von ihm zu verlangen, Respekt gegenüber dem Gastgeber, seiner Kultur, seiner Religion, seinen Gesetzen zu zeigen. Die Überzeugung: Deutschland ist keine Insel der Glückseligen und kein goldener Turm, sondern ein Land, das filigran mit der ganzen Welt verbunden ist, auch mit deren Elend. Die finanziellen Anreize reduzieren, die keinen Flüchtling interessieren, sondern nur eine egoistische Minderheit unter ihnen. Dafür großzügig und dynamisch den Spracherwerb fördern und ihn nicht einzig den privaten Initiativen überlassen. Die Sicherheit der Flüchtlinge gegenüber Übergriffen der Rassisten ernstnehmen. Diese Menschen brauchen Ruhe und Frieden. Es geht nicht an, dass sich ein paar Rassisten zum Staat im Staat erheben. Das ist keine Politik, sondern ein Verbrechen. Es geht auch nicht, dass die Religion dieser Menschen Tag und Nacht beleidigt wird. Als ob wir in Deutschland keine andere Aufgabe mehr haben, als den Islam zu beschimpfen.
Die Flüchtlinge, die gerade in Deutschland aufgenommen werden, werden mit völlig neuen Werten des Zusammenlebens konfrontiert. Wie lässt sich eine solche Kulturschockerfahrung auffangen?
Schami: Es ist sehr schwer, diese wunderbar komplexe Frage kurz zu beantworten. Ihr würden ganze Doktorarbeiten nicht gerecht. Hier mein verzweifelter Versuch: Was ein Flüchtling auf den Schultern trägt, ist unglaublich schwer: Die Belastung durch den Krieg, die Flucht und der Verlust aller Werte, die man sich ein ganzes Leben erarbeitet hat, die Demütigungen, die man erfährt, die Angst, die durch die Schutzlosigkeit und Desorientierung entsteht, das bittere Gefühl, dass die Menschen im neuen Land einen verachten und ablehnen – auch wenn das manchmal real nicht stimmt –, die Werte der neuen Gesellschaft sind nicht völlig neu, aber die Werteskala steht plötzlich auf dem Kopf. Viele Flüchtlinge machen zum ersten Mal in ihrem Leben die Erfahrung, eine Minderheit zu sein. Das ist hart, und es erzeugt automatisch Heimweh und führt in der Regel zu einer übertrieben stolzen Ablehnung der neuen Heimat. Am Ende kann das zu Passivität der Flüchtlinge führen, auch gegenüber gut gemeinten Maßnahmen, die ihnen helfen.
Nämlich?
Schami: Wir wissen inzwischen viel über den Kulturschock, seit die Anthropologin Cora DuBois in den 50er Jahren dieses Phänomen untersucht hat. Nach der Phase der Euphorie durch die Errettung kommt die Ernüchterung, und dies wird mit Sicherheit von einer Einigelung gefolgt, die zur Isolation führt. Hier können Helfer, die aus dem Kulturkreis stammen und längst in Deutschland integriert sind, große Dienste leisten, um den Flüchtlingen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Um ihnen zu helfen, kritisch über die eigene Kultur nachzudenken, offen den Eigenheiten der deutschen Kultur zu begegnen, ohne Glorifizierung oder Verdammung – und dass sie weder besser noch schlechter sind als die Eigenheiten der syrischen Gesellschaft, nur eben anders. Ihnen zu helfen, dass sie aufhören mit dem Schwarz-Weiß-Vergleich zwischen dort und hier, ihnen die notwendigen Sprachkenntnisse beibringen, ihnen mit Humor über eingebildete oder erlebte Niederlagen hinwegzuhelfen.
Ihnen erklären, dass man hier nach den Gesetzen der Gastgesellschaft lebt und nicht nach denen der Herkunftsländer, ihnen versichern, dass sie hier, soweit es geht, geschützt sind durch den Respekt vor ihnen, der im Grundgesetz garantiert ist.
Was heißt das konkret?
Schami: Die Behörden müssen strengstens dafür sorgen, dass Islamisten und Rassisten gar keine Möglichkeit bekommen, die Flüchtlinge zu manipulieren und ihr Elend auszunutzen und zu missbrauchen. Dies ist ein Gebot der Freiheit und eine Verpflichtung der Demokratie. Vor allem aber darf niemand die Islamisten naiv unterschätzen. Bei all dem müssen die Helfer nüchtern bleiben und keine hohe Erwartung stellen. Und ich bin sicher, dass sie mit Kindern und Jugendlichen sehr gute Ergebnisse erzielen.
Rafik Schami
Der Autor wurde 1946 in Syrien geboren, er studierte in der Hauptstadt Damaskus Chemie, Mathematik und Physik. 1971 wanderte er nach Deutschland aus. Er arbeitete in Fabriken und als Aushilfskraft in Kaufhäusern, Restaurants und Baustellen und absolvierte sein Studium der Chemie, 1979 erfolgte an der Universität Heidelberg die Promotion. Rafik Schami schreibt seit 1977 auf Deutsch und lebt seit 1982 in der Pfalz.
Werke: „Wie ich Papa die Angst vor Fremden nahm“ (2003), „Das Geheimnis des Kalligraphen“ (2008), „Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte“ (2011). Preise: Er erhielt unter anderem den Adelbert-von-Chamisso-Preis 1985 und 1993, Hermann-Hesse-Preis 1994, Kunstpreis Rheinland-Pfalz 2003, Brüder-Grimm-Professur der Universität Kassel 2010. Seine Werke wurden in 28 Sprachen veröffentlicht.
Rafik Schami kommt in nächster Zeit zu mehreren Lesungen in die Region Mainfranken: 27. Januar: Veitshöchheim, Bücherei im Bahnhof, 20 Uhr. 22. Februar: Schweinfurt, Celtis-Gymnasium, 19 Uhr. 23. Februar: Würzburg, Stadtbibliothek, 20 Uhr. 24. Februar: Lauda, Martin-Schleyer-Gymnasium, 19.30 Uhr. text: ekr