„Wenn man sich der bildhaften Sprache von John le Carré bedient, könnte man sagen, dass Russland heute 'aus der Kälte zurückgekehrt ist' – nach fast einem Jahrhundert Isolation und Selbstisolation. Und gegenwärtig kehrt Russland in die globale Politik und Wirtschaft zurück, mit allen seinen natürlichen, finanziellen und intellektuellen Ressourcen und Potenzialen.“ Dimitrij Medwedew, russischer Präsident
Sonntagnachmittag in der 1,3-Millionenstadt Nishnij Nowgorod. Von Glamour keine Spur. Auf dem Weg vom Flughafen ins Zentrum kilometerlang das gleiche Bild: Verfallene Plattenbauten, trostlose Läden und Cafés – und Schlaglöcher, immer wieder riesige Schlaglöcher, die den Fahrer zum Bremsen zwingen. Die Menschen auf dem staubigen Gehsteig haben es nicht eilig – schließlich ist Sonntag. Und so bummeln junge Paare engumschlungen die Straße entlang, die jungen Frauen meist in recht knapp sitzenden Röcken aus glänzendem Stoff.
Russland im Juli 2008. Vom sagenhaften Reichtum der sogenannten Oligarchen, der neuen Milliardärskaste, ist hier, 400 Kilometer westlich von Moskau, nichts zu sehen. Doch diejenigen, die die Region schon länger kennen, belehren uns Russland-Neulinge immer wieder: Unglaublich viel habe sich verändert, auch hier, man werde schon noch sehen.
Tatsächlich wandelt sich im Zentrum, am deltaähnlichen Zusammenfluss von Wolga und Oka das Bild: Die ersten neuen Einkaufszentren und, natürlich, Autohäuser, glitzern metallisch-edel in der Nachmittagssonne. Und ja, einige der Passanten haben ein Mobiltelefon in der Hand, untrügliches Anzeichen für beginnenden westlichen Wohlstand. Bei einer kleinen Bootsfahrt gibt es für den Wirtschaftsminister Erfahrungsberichte der ortsansässigen Deutschen – und Wodka auf der Wolga.
Bereits 30 deutsche Unternehmen
Wir lernen: Nishnij Nowgorod ist eine Boomtown, eine blühende Stadt – trotz der weithin vorherrschenden Ost-Tristesse. Die Region zieht, wegen der im Vergleich zum nahen Moskau wesentlich niedrigeren Kosten und einer wirtschaftsfreundlichen Politik, die Investoren an. Mehr als 30 deutsche Unternehmen haben sich hier bereits niedergelassen. Für Bundeswirtschaftsminister Michael Glos Grund, diese Region einmal anzusehen.
Seit seinem Amtsantritt ist Glos nun bereits zum siebten Mal in Russland – und stets versucht er neue Regionen kennenzulernen. Der Minister aus Unterfranken schätzt die Provinz – und ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten. Eine kleine Delegation, darunter eine Handvoll Unternehmensvertreter und drei Journalisten, begleitet den Wirtschaftsminister auf dieser kurzen Dienstreise.
Mit dabei auch Klaus Mangold, Präsident des Ost-Ausschusses der deutschen Wirtschaft. Der ehemalige Topmanager (Quelle, Daimler) ist intimer Kenner Russlands. Im Gespräch mit dem stellvertretenden Gouverneur der Region nennt Mangold Nishnij Nowgorod eine „Zielregion“ der deutschen Wirtschaft. Die russische Seite fühlt sich geschmeichelt, nickt beifällig.
Doch Mangold kann auch anders, spricht selbstbewusst seine Kritikpunkte an. Die Genehmigungsprozesse würden im Vergleich zu anderen Regionen immer noch zu lange dauern – und die Abfertigung am kleinen Flughafen – den die Lufthansa immerhin viermal in der Woche anfliegt – würde sich oft hinziehen. Der stellvertretende Gouverneur verspricht Besserung: Wenn die anderen Regionen bei der Bürokratie schneller seien, „dann können wir das auch“. Und wegen der zähen Abfertigung am Flughaben bittet er um Verständnis. Nishnij Nowgorod sei früher wegen der hier ansässigen Rüstungsproduktion eine „geschlossene Stadt“ gewesen, mit äußerst strengen Zugangskontrollen – das habe sich wohl in den Köpfen der Zollmitarbeiter zu sehr festgesetzt.
Türöffner für den Mittelstand
Mangold nickt zufrieden, Glos lächelt nur still. Der Wirtschaftsminister schätzt auch solche kleinen Fortschritte. Er weiß, wie schwer es gerade für Mittelständler ist, im Ausland Geschäftsbeziehungen aufzubauen. „Die Großen sind sowieso da“, sagt er später nüchtern. Er sehe sich daher vor allem als Türöffner für die zahllosen kleinen und mittleren Unternehmen, denn nicht zuletzt die seien ja die Basis des wirtschaftlichen Erfolgs von Deutschland. „Ich will dazu beitragen“, sagt Glos ganz ohne Pathos, „dass es aufwärts geht“.
Am Nachmittag Weiterflug nach Moskau. Schon der Blick auf das Rollfeld des Flughafens Vnukovo – es ist nur einer von insgesamt sieben Flughäfen der russischen Metropole – zeigt: Hier sitzt das Geld, dies ist das Russland, das man in Deutschland zuletzt staunend aus den Medien kennengelernt hat. Es geht zu wie bei einer Flugzeug- und Automobilmesse. Denn eine standesgemäße Limousine reicht den wirklich Reichen längst nicht mehr – in Moskau gehört ein Privatjet zum guten Ton. Da passt es ins Bild, dass der scheinbar allmächtige Gazprom-Konzern einen eigenen Flughafen unterhält.
Beim abendlichen Empfang in der Residenz von Botschafter Walter Jürgen Schmid mischt sich auch der stellvertretende Vorstandschef von Gazprom, Alexander Medwedew (der nicht mit dem neuen Präsidenten Dimitrij verwandt ist) unter die Gäste. Man kennt sich, man respektiert sich. Die Deutschen haben in Russland einen guten Namen, sind wegen ihrer Zuverlässigkeit und ihrer hochwertigen Produkte beliebt.
Glos hat ein Mammutprogramm. Vier Minister des Kabinetts unter dem neuen Präsidenten Dimitrij Medwedew wird er in wenigen Stunden treffen. Es sind die Ressorts Energie, Wirtschaft, Industrie und Telekommunikation – die Russen haben dafür jeweils einen Minister. Glos ist in Deutschland für alles zuständig. Glücklich ist er darüber nicht, doch er hat sich damit arrangiert, wirkt in seiner Rolle gelassen und souverän.
Russland will Energie sparen
Vor Journalisten der deutschen Medien in Moskau wird er anschließend von guten Gesprächen sprechen. Und die Chancen preisen, die sich für deutsche Unternehmen auf dem russischen Markt auftäten. Denn auch die Russen hätten erkannt, dass Energiesparen, rentabel sein kann – selbst wenn man der weltweit größte Gasproduzent und eines der größten Ölförderländer ist.
Bislang kostet Gas in Russland nicht viel, man ist noch aus sozialistischen Zeiten gewohnt, dass einfach immer genug da ist – und geht entsprechend verschwenderisch damit um. Privatwohnungen haben gar keinen eigenen Zähler, man zahlt eine niedrige Pauschale und das war's. 100 Millionen Kubikmeter würden so Jahr für Jahr verschwendet, hätte sich der Energieminister beklagt, verrät Glos. Er habe das „kaum glauben können“. Denn das entspreche ziemlich exakt der Menge, die Deutschland jährlich an Gas verbrauche.
Glos will hier mit deutscher Umwelttechnik helfen. Energieeffizienz heiße das Stichwort, doziert er – nun ganz Industrieminister. Im Hintergrund nickt Wirtschaftsmann Mangold beifällig, er schätzt Glos für sein Engagement für die deutsche Wirtschaft im Ausland – keine Selbstverständlichkeit in früheren Jahren. Glos sagt das auf seine Weise. „Es gibt Wirtschaftsminister, die gehen nicht gerne raus. Und es gibt Wirtschaftsminister, die gehen gerne raus“.
Mittagessen im Gartenrestaurant neben der Residenz des Botschafters, die Atmosphäre ist entspannt, die Gäste aus Deutschland genießen das in Russland omnipräsente kalte Büffet. Daimler-Russland-Chef Jürgen Sauer berichtet von seinen Verkaufserfolgen. Im vergangenen Jahr habe sich der Stuttgarter Autobauer an die Nummer eins der Premiummarken gesetzt, vor seinen bayerischen Wettbewerbern Audi und BMW – und der Toyota-Luxusmarke Lexus.
Eine Mittelschicht etabliert sich
Es sind vor allem große, stark motorisierte und üppig ausgestattete Limousinen und Luxus-Geländewagen, die auf dem russischen Markt gefragt seien. Neuerdings gebe es allerdings auch immer mehr Kunden für die vergleichsweise bescheidene C-Klasse, Anzeichen einer sich neu etablierenden Mittelschicht.
Auch das Zahlungsgebaren habe sich gewandelt, berichtet Sauer: Wo es früher gang und gäbe war, dass ein Kunde zur Abholung seiner S-Klasse „mit einer Tüte voll Bargeld erschienen“ sei, würden heute immer öfter moderne Finanzierungsmethoden genutzt. Der russische Automarkt reift – und wächst weiter rasant: Schon bald sollen zwischen Moskau und Wladiwostok mehr Neuwagen verkauft werden als in Deutschland.
Die Zeit drängt, Glos wird dringend erwartet. Es geht um die tags darauf verkündete Einigung mit SPD-Arbeitsminister Olaf Scholz zum Mindestlohn, wofür ihn Kanzlerin Angela Merkel in Berlin haben will.
Rückfahrt zum Flughafen. Eine Polizeieskorte bahnt sich mit Blaulicht und Sirene auf der Gegenfahrbahn einen Weg am schier endlosen Moskauer Dauerstau vorbei. Die überholten Autofahrer reagieren gelassen, sie sind solche Eskorten gewohnt. Zeit ist Geld – in Moskau weiß man das nur zu genau.
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