Rudi Thurow
Welchen Beruf haben Sie vor der Arbeit als Grenzsoldat gelernt?
Ich habe eine Lehre im Bergbau gemacht. Die hat dreieinhalb Jahre gedauert, danach kam der Grundwehrdienst. Vor meinem Einsatz in Berlin war ich an der tschechischen Grenze stationiert. Während meiner Zeit an der Berliner Mauer war ich an der Exklave Steinstücken tätig. Das war ein kleiner Abschnitt, der zum Westen gehörte, aber komplett von Ostberlin umschlossen war. Ich habe in der Grenzkompanie viele schlimme Erlebnisse gehabt, so dass ich mit drei Bekannten zusammen den Plan geschmiedet habe, über die Exklave nach West-Berlin zu flüchten. Wir hatten das alles ganz genau organisiert und den zeitlichen Ablauf geplant. Vorsorglich hatte ich aus den Waffen der Grenzer, die an diesem Abend Dienst hatten, die Bolzen ausgebaut. Aber zehn Minuten vor Dienstschluss – ich saß gerade bei meinem Vorgesetzten – bekam der einen Anruf: Einer der Soldaten hatte bemerkt, dass die Waffen manipuliert worden waren. Wir mussten also kurzfristig unseren Plan ändern. Beim Übertritt wurden wir dann aber doch entdeckt und auf die Warnung der Grenzsoldaten eröffnete ich sofort das Feuer, zielte aber einige Meter höher, um niemanden zu verletzen. Wir rannten über die Grenze, wobei einer meiner Begleiter im Stacheldraht hängen geblieben ist und sich schwer verletzt hat. Wir konnten ihn befreien und flüchteten in einen West-Berliner Keller. Von Steinstücken aus wurden wir dann in US-Uniform mit Hilfe der Amerikaner mit dem Hubschrauber ausgeflogen. Später engagierte ich mich in der Fluchthelfer-Gruppe um Detlef Girrmann und wir konnten neben Flugblatt-Aktionen auch mit Hilfe von Fluchttunneln einige Leute aus dem Osten in den Westen holen. Ich stand während meiner gesamten Zeit in Berlin immer unter dem Schutz der USA, da es ja konkrete Pläne für meine Liquidierung gab. Oft hatte ich auch richtig Glück, dass sie mich nicht erwischt haben.
Wie haben Sie die Tage der Wiedervereinigung 1989 erlebt?
Zu der Zeit war ich als Mechaniker angestellt. Die Werkhalle war ganz in der Nähe der Mauer. Da habe ich durchs Fenster die ersten Trabbis gesehen. Ich traute meinen Augen nicht und schaltete sofort das Radio an, wo ich dann auch von Günter Schabowskis Aussage hörte. Ich bin an die Grenze gefahren und habe die Leute aus dem Osten empfangen. Damit hätte ich nie gerechnet! Allerdings hatte ich immer noch Angst vor den Grenzsoldaten, weil ich nicht wusste, ob die mich vielleicht nicht doch einfach mitnehmen.
Hatten Sie bestimmte Hoffnungen oder Ängste in Bezug auf die Zukunft?
Bedenken hatte ich natürlich und Angst vor Racheakten. Ich war ja quasi der größte Staatsfeind. Diese Stasi-Kader waren und sind noch immer gut organisiert. Ich habe auch noch fünf Jahre nach der Wende anonyme Drohanrufe erhalten.
Wurden im Prozess der Wiedervereinigung Fehler gemacht?
Der größte Fehler war, dass die Verbrechen des Regimes und der Staatssicherheit nie aufgearbeitet wurden. Die Angehörigen der Stasi sitzen heute noch im Land- und Bundestag und besetzen andere hohe Ämter. Aber das war ja eine Entscheidung aller Parteien, das wollte man wohl so, um die Sache schnell abzuschließen. Trotzdem kann man sagen, dass der Einigungsvertrag zu Lasten der Opfer ging und die Täter ungestraft davonkamen. Außerdem haben die Treuhandgesellschaften und Unternehmer aus dem Westen die Naivität der Ost-Bürger ausgenutzt und so für soziale Ungerechtigkeit gesorgt.