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Schulstoff aufgerollt

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Schulstoff aufgerollt

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    Die drei von der Bildstelle: Lena Zellfelder, Dr. Ina Katharina Uphoff und Eva Zimmer in den neuen Archivräumen in der ehemaligen Elementary School der US-Armee auf dem Uni-Campus.THOMAS OBERMEIER
    Die drei von der Bildstelle: Lena Zellfelder, Dr. Ina Katharina Uphoff und Eva Zimmer in den neuen Archivräumen in der ehemaligen Elementary School der US-Armee auf dem Uni-Campus.THOMAS OBERMEIER Foto: Foto:

    Hätte man Kinder in Spanien früher gebeten, eine Burg zu malen, hätten sie eine Burg gemalt. Doch keine Alhambra, kein Castillo de Cid, keine Burg im maurischen Stil. Sondern eine richtig schöne Ritterburg. Mit runden Türmchen und Zinnen, mit Fensterchen und Schießscharten, mit Burggraben, vielleicht einer Ziehbrücke und einer Prinzessin auf dem Balkon. Ob es zwischen spanischen und deutschen Kindern im 20. Jahrhundert ein Einverständnis gab, wie eine Burg auszusehen hat? „Das hat wohl auch mit den Schulwandbildern zu tun“, sagt Diplompädagogin Magdalena Zellfelder. In Spanien hatte man lange Zeit Wandtafeln und andere Bildmedien aus Deutschland im Schulunterricht genutzt – und Burgendarstellungen müssen unbedingt dabei gewesen sein. So prägte sich auch die deutsche Vorstellung einer Ritterfestung ins spanische Kindergedächtnis ein.

    Als die Welt noch nicht von Bildern überflutet war, als es noch keine Computer, keine Overheadprojektoren oder Fernsehgeräte gab, da machten die Lehrer im Klassenzimmer Unterricht mit wenigen ausgewählten Drucken: mit Zeichnungen auf steifem Karton oder Papier, mit Illustrationen, die auf Leinen aufgezogen waren, damit man sie zusammenrollen und in die Ecke stellen konnte. Generationen von Kindern lernten mit den Wandbildern das Abc und Einmaleins, büffelten damit die Erdgeschichte und die Flora und Fauna der Heimat. Mit Hilfe der Tafeln reisten ganze Klassen in vergangene Zeiten, entdeckten andere Kontinente und eroberten ferne Länder.

    König Heinrichs Gang nach Canossa, Luthers Thesenanschlag zu Wittenberg, schwarzhäutige Menschen auf Kakaoplantagen, deutsche Schiffe auf den Weltmeeren: Die Bilder – oft die einzige Abwechslung im schmucklos-tristen Klassenraum – prägten sich ein. „In einem Zeitraum von über einhundert Jahren haben die Wandbilder als wichtigstes Anschauungsmedium im Unterricht das weite Feld der Vorstellungs- und Gesinnungsbildung im europäischen Raum bestimmt und gesteuert“, sagt Dr. Ina Katharina Uphoff. Die Erziehungswissenschaftlerin leitet an der Uni Würzburg die Forschungsstelle Historische Bildmedien. Was bedeutet: Sie hütet einen Schatz von rund 20 000 Schulwandbildern aus einem Zeitraum von 150 Jahren und aus allen Unterrichtsfächern. So üppig und umfangreich ist die Sammlung inzwischen geworden, dass sie als Europas größtes Archiv an Anschauungsmedien gilt.

    Und seit diesem Jahr sind nun auch alle 20 000 Originale, die bislang auf mehrere Bibliotheken und Magazine über ganz Würzburg verteilt waren, an einem Ort zusammen: Die Sammlung ist – passenderweise – in die ehemalige Elementary School auf den neuen Campus der Universität gezogen. Da hängen sie nun auf 400 Quadratmetern, aufgerollt, nach Verlagen sortiert und dicht aneinandergereiht an Eisenträgern und in Regalen. Bilder von Märchen und Mägen. Von Geräten und Geflügel. Von Baustellen und Bauwerken. Länderkarten, Zeittafeln, viel Anatomie. Die opulente Zeichnung einer Hochofenanlage hängt neben einer schlichten Grafik zum Ordensstaat und der romantischen „Höhlenbärenjagd“. Eine Zeichnung der Brust- und Bauchorgane findet sich neben einer Tafel zu giftigen Pilzen. Die Bremer Stadtmusikanten haben Platz neben dem Wandbild zum Russlandfeldzug gefunden. Die Tafel „Scheidemann ruft die Republik aus“ steckt hinter „Dem Gelähmten“ aus der Reihe „Biblische Bilder“. Die Karte „Übersee ruft!“ von 1938 aus der Reihe „Deutsches Volkstum in aller Welt“ spickt hinter der Honigbiene hervor. Kohlweißling, Menschenrechte, Fließbandarbeit, Kolonialismus – kein Thema, zu dem es nicht ein Schulwandbild gäbe. Ausrangiert zwar, mit Eselsohren und Fettflecken manchmal, aber gut erhalten. Auf dem aufgerollten „Haushaltsplan unserer Stadt“ ist hinten ein „Ausgemustert“ draufgestempelt. Auch wenn das Bild jetzt im Archiv statt in der Klasse hängt – der Finanzausgleich wandert munter weiter als Geldsack auf zwei Beinen herum.

    „Jetzt haben wir vor Augen, wie viele Bilder es tatsächlich sind“, sagt Professor Andreas Dörpinghaus, der Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Erziehungswissenschaften, nach dem Umzug der Forschungsstelle in die neuen Räume. Zum Teil sind die Roll- und Flachkarten schon gut inventarisiert und digitalisiert – doch noch ist für Ina Uphoff und ihre Mitarbeiter viel zu tun. Weil der Bestand aus ganz unterschiedlichen Sammlungen und Archiven zusammengekommen ist, fehlt eine sinnvolle Systematik übers Ganze. Zwei Drittel der Bilder stammen von der Uni Duisburg-Essen, wo ein Professor von 1975 an leidenschaftlich eine Sammlung schulischer Anschauungsbilder pflegte. Manchmal melden sich Schulen oder ehemalige Lehrer, die im Keller noch Bilder finden und um Asyl für die Rollen bitten. Und zuletzt hat die Staatsbibliothek Berlin ihren Bestand von 40 bestens erhaltenen Biologie-Tafeln zur Tierkunde aus dem Jahr 1903 nach Würzburg geschickt.

    Das älteste Exemplar in der Würzburger Sammlung stammt von 1840 und ist aus der zweiten Auflage der allerersten Schulwandbild-Serie aus dem Jahr 1837. Szenen aus dem Alltagsleben – Reisen, Predigten, Schlachten, Schlafen – sind darauf zu sehen. Man hatte es für den Taubstummen-Unterricht verwendet, sagt Diplompädagogin Eva Zimmer. Dass die Tafeln bald gefragt waren und enorme Konjunktur hatten, hing vor allem mit der rasanten Entwicklung der Druckereien im 19. Jahrhundert zusammen. Die Erfindung der Lithografie und die stetig verbesserte Technik hatten die Produktion und den Vertrieb des großen, bunten und günstigen Bildmaterials für Schulen erst möglich gemacht.

    Für den ersten Sprachunterricht, für Religion, Erdkunde, Naturkunde, sogar für den Turnunterricht erschien besonders seit den 1870er Jahren dann eine Fülle von Wandbildern und Serien, die sich teils über Jahrzehnte hinweg auf dem Lehrmittelmarkt behaupteten und in Zeiten von Rohrstock und Schiefertafel ganze Pennäler-Generationen begleiteten. Verlagshäuser arbeiteten mit Pädagogen zusammen, beauftragten Künstler – so entstanden manchmal geradezu opulente, wirkungsmächtige Illustrationen. Den Einfluss der Tafeln – gerade in einer sonst noch ziemlich bilderarmen, an optischen Reizen geizenden Zeit – könne man gar nicht hoch genug ansetzen, sagt Andreas Dörpinghaus. „Man darf nicht unterschätzen, wie die Ästhetik der Bilder den Geschmack der Kinder prägte.“ Und nicht nur den Geschmack: „Die Agitation läuft über Bilder“, sagt der Erziehungswissenschaftler. Man müsse sich nur mal anschauen, mit welchen Farben die Länder auf den Karten eingezeichnet wurden. „Die Farben vergisst man nicht mehr.“

    Anschaulicher und direkter als Lehrpläne zeigen die Wandbilder heute, was einst aus der großen Welt ins kleine Klassenzimmer drang, sagt Ina Uphoff. Ab den 1960er Jahren sei die herausragende Bedeutung geschwunden – im Zuge der Bildungsreformen und weil Projektionsapparate und elektronische Medien in den Schulen Einzug hielten. Dia, Film und Folie kamen, die Rollen und Karten landeten im Keller. Und mit ihnen ein „Kulturgut, ein Teil des kulturellen Gedächtnisses“, wie Dörpinghaus über die lange unterschätzten und vernachlässigten alten Lehr- und Lernmittel sagt. Dass die deutschen Drucke in viele europäische Länder exportiert wurden und die „Ritterburg des 13. Jahrhunderts“ auch in Spanien im Klassenzimmer hing – es macht ihren Stellenwert umso größer.

    Geöffnet hat die Forschungsstelle Historische Bildmedien der Universität Würzburg nach Vereinbarung Tel. (0931) 31-89672. Einblicke in die Vielfalt der Wandbilder: historywallcharts.eu/

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