Dieser historische Moment dauert noch knapp 35 Minuten. Das zeigt der mit einem Beamer an die Wand am Ende des Raumes geworfene Countdown. Die Sekunden flitzen nur so davon, aber das scheint niemanden zu stören. An acht quadratischen Tischen sitzen jeweils vier Menschen, bewegen sich kaum. Es hat den Anschein, als würden sie gerade eine wichtige Prüfung absolvieren. So still ist es, so sehr ist die Konzentration spürbar. Aber die Frauen und Männer unterschiedlicher Nationalitäten sind nicht in knifflige Abituraufgaben vertieft – dafür wären sie mit ihren durchschnittlich 55 Jahren auch etwas spät dran. Vielmehr ruht ihr Blick auf den Spielkarten in ihrer Hand. Sie messen sich gerade im Bridge.
Das klingt und wirkt erst einmal nicht besonders bedeutsam. Ist es aber. Denn das hier ist nicht irgendein Bridge-Spiel, es ist eines während der „European Makkabi Games“. Und die finden zum ersten Mal in Deutschland statt. An dieser Olympiade dürfen nur jüdische Sportler teilnehmen. Sie messen sich in 19 Sportarten – in klassischen wie Schwimmen, Fußball und Basketball, aber auch in eher ungewöhnlichen Disziplinen wie Bowling und eben Bridge. Juden aus etwa 30 europäischen Ländern sowie aus den USA und aus Israel treten hier gegeneinander an.
Und das in einem Jahr, das gleich drei Jahrestage vereint: 70 Jahre ist das Ende des Zweiten Weltkriegs her und damit das Ende des Völkermords an den Juden. Vor 50 Jahren wurden die deutsch-israelischen Beziehungen aufgenommen. Und der deutsche Makkabi-Verband feiert sein 50-jähriges Bestehen.
Historisch bedeutsam ist ebenso der Ort der Makkabiade. Sie findet bis zum 5. August nicht irgendwo in Deutschland statt, sondern im Olympiapark in Berlin. Ausgerechnet. Es ist die Sportstätte, die den Nationalsozialisten als Inszenierung diente. Das Olympiastadion wurde für die Olympischen Spiele 1936 erbaut, bei denen jüdische Sportler nicht erwünscht waren. Adolf Hitler eröffnete das Stadion. Heute ist es für viele eine steinerne Erinnerung an den Holocaust.
Auch Shalom Zeligman, Bridgespieler aus Israel, ist skeptisch. „Es ist interessant, dass die Spiele in Deutschland stattfinden“, sagt er auf Englisch. „Ich bin mir nicht sicher, ob es okay ist. Aber es ist interessant.“ In seinem Heimatland Israel leben viele Immigranten. Einige von ihnen haben durch die Nationalsozialisten Verwandte verloren, sagt Zeligman. Der schlaksige 68-Jährige sagt, er könne verstehen, wenn sie Deutschland meiden.
Dennoch – er und seine Teamkollegen seien hier gut empfangen worden. Und die multinationalen Bridge-Spieler seien bereits wie eine Familie, fügt einer seiner Teamkollegen hinzu.
Diese Familie ist noch immer damit beschäftigt, mit Herz, Karo, Pik und Treff Stiche zu sammeln. Das Bridgespiel besitzt eine lange jüdische Tradition. In der nationalsozialistischen Zeit war es als „undeutsches“ Spiel, als Spiel der Juden verpönt. Hier und heute spielen die Juden es mit großer Freude. Wenn die Stille einmal durchbrochen wird, dann durch ein Lachen in dem kahlen Konferenzraum des Landessportbundes neben dem Olympiastadion. Vielleicht hätte man ein bisschen mehr Glamour erwartet. Ein bisschen mehr, das der historischen Tragweite entspricht.
Den Glamour gibt es dafür einige hundert Meter entfernt, in Sporthalle 2 im Olympiapark, beim Badminton. Marc Zwiebler, der 2012 die Europameisterschaften im Badminton gewann, ist angereist. Obwohl er selbst kein Jude ist. „Ehrlich gesagt habe ich vorher noch nie von den Makkabi-Spielen gehört“, sagt er. „Ich denke, das geht vielen so. Aber ich hoffe, dass die Spiele nun bekannter werden, wo sie jetzt in Deutschland stattfinden.“
Der 31-Jährige tut zumindest alles dafür. Er will die Makkabi-Spiele unterstützen, fungiert als Pate für seine Sportart Badminton. Und das ist mitunter schweißtreibend. In schwarzen Shorts und einem Shirt mit dem Spruch der Makkabiade, „Competing in Sports – united at heart“, steht er auf dem Feld und liefert sich gegen eines der Makkabi-Talente ein Match. Auch wenn Zwiebler deutlich überlegen ist, kann sein Gegner Boris Kaprov immerhin ein paar Punkte erzielen.
Trotz der Unterstützung ist Boris Kaprov, der in Trier wohnt und Teil der deutschen Makkabi-Nationalmannschaft ist, danach fix und fertig. „Das war echt anstrengend“, sagt er und ringt nach Luft. „Aber toll.“ Der 31-Jährige ist begeistert von der Makkabiade: „Es ist ein tolles Erlebnis. Das werde ich wahrscheinlich mein ganzes Leben nicht mehr vergessen.“ Es mache ihn stolz, dass die Spiele in Deutschland ausgetragen werden. Und es berühre ihn auch. „Ich stamme ursprünglich aus Osteuropa. Wahrscheinlich berührt es die in Deutschland geborenen Juden sogar noch mehr.“
Fragen wir doch mal einen, nämlich Alon Meyer. Er ist der Präsident von Makkabi Deutschland. Wir begleiten den 41-Jährigen hinaus aus der Badmintonhalle auf den Jahnplatz am Deutschen Sportforum. Dort sind Buden aufgebaut, die über religiöse Verbände und koscheres Essen informieren. „Ja, es berührt mich sehr stark“, sagt er. Er habe selbst Verwandte durch den Nationalsozialismus verloren. Sein Vater ist 1936 als Kind mit seinen Eltern aus Deutschland geflohen. „Er hatte drei Onkel, und die haben alle gedacht, dass es schon nicht so wild werden wird. Schließlich hatten ihre Eltern ja noch im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft“, sagt er. „Der eine ist trotzdem mit meinem Großvater ausgewandert. Die anderen beiden nicht. Sie sind vergast worden.“ Für Meyer ist es wichtig, dass die Spiele hier in Berlin stattfinden. Das sei ein Vertrauensbeweis und ein Zeichen der geschichtlichen Aussöhnung.
„Und es ist gut, dass es nur 70 Jahre nach der Shoa passiert. So lange noch Leute leben, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben“, sagt er. „Dass sich der Kreis für sie alle schließt. Dass wir davon überzeugen können, dass Deutschland heute für uns Juden lebens-, lobens- und liebenswert ist.“
Am heutigen Samstag ist Ruhetag. Zumindest sportlich gesehen. „Am Sabbat wird nicht gearbeitet und auch kein Sport getrieben. Es ist ein Tag der Ruhe und der Besinnung“, sagte Claudio Offenberg, der jüdische Chef der Fußball-Turniere im Berliner Olympia-Park. Die Einhaltung des Sabbats ist eines der zehn Gebote des jüdischen Glaubens.