Das Entsetzen geht um den Globus. Geschockt steht die Weltöffentlichkeit vor den Bildern des bisher schlimmsten Massakers im syrischen Bürgerkrieg. Für die Türkei hat Damaskus damit endgültig die „rote Linie“ überschritten. Frankreich fordert eine „harte internationale Reaktion“, schließt jedoch den Einsatz von Bodentruppen nach wie vor aus. Die USA sehen „klare Hinweise“, dass es einen Giftgasangriff gab und dass die tödlichen Raketen von Baschar al-Assads Armee abgefeuert wurden.
Ein solches Kriegsverbrechen, hatte US-Präsident Barack Obama bereits vor Monaten erklärt, werde ein Eingreifen der internationalen Gemeinschaft zur Folge haben. So geriet Syriens Regime am Donnerstag unter massiven diplomatischen Druck, den erst kürzlich nach Damaskus gereisten UN-Chemiewaffenexperten zu gestatten, vor Ort Proben zu nehmen, Gespräche mit Opfern zu führen und nach den Verantwortlichen für den Beschuss zu fahnden.
Schwere Nervenvergiftungen
Zwischen 500 und 1300 Menschen sind nach Angaben verschiedener Menschenrechtsorganisationen gestorben, Hunderte liegen mit schweren Nervenvergiftungen in Krankenhäusern und Notlazaretten. Auf Videos sind Opfer zu sehen, denen Schaum aus dem Mund quillt. Ärzte versuchen, bewusstlose Kinder wiederzubeleben. Anderen Verletzten zittern Arme und Beine oder sie haben Sehstörungen. Das Unheil überraschte die Männer, Frauen und Kinder am Mittwoch um 3 Uhr früh im Schlaf, als in den Vororten Ain Tarma, Zamalka, Moadamieh und Jobar östlich von Damaskus die Raketen einschlugen – der schwerste Giftgaseinsatz gegen die Zivilbevölkerung, seit Saddam Hussein 1988 das kurdische Dorf Halabja bombardieren ließ. Damals fanden 3000 bis 5000 Menschen den Tod.
„Wir sind fassungslos und tief schockiert“, erklärte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon und forderte „so rasch wie möglich“ eine Untersuchung des Massakers. Ban forderte beide Seiten auf, die Kämpfe einzustellen, besonders in der Region Ghouta, wo die Giftgasangriffe stattfanden, damit die UN-Experten ohne Gefahr arbeiten könnten. „Die Sicherheitslage lässt dies momentan nicht zu“, hieß es dazu lakonisch aus Damaskus, das die Region auch am Donnerstag durch seine Kampfjets unablässig bombardieren ließ.
Am Sonntag erst hatte die syrische Führung ein Team von UN-Inspektoren unter der Führung des Schweden Aake Sellstroem ins Land gelassen, das mögliche frühere Einsätze von Chemiewaffen aufklären soll. Als Vorbedingung ließ Assad das Mandat auf drei Orte beschränken, Khan al-Assal in der Provinz Aleppo, Ataybeh nahe Damaskus und Homs.
Inzwischen nehmen die Flüchtlingszahlen aus dem Bürgerkriegsland geradezu apokalyptische Dimensionen an. Ein Drittel der syrischen Bevölkerung hat ihr Dach über dem Kopf verloren. Seit Ägypten seine Grenzen geschlossen hat, suchen Menschen vermehrt Rettung in Libanon und Irak. Allein in den letzten acht Tagen sind über 30 000 syrische Kurden aus Angst vor El-Kaida-Extremisten der von Saudi-Arabien finanzierten Al Nusra-Front in den Norden des Iraks geflohen.
Dementis aus dem Assad-Lager
Das Assad-Lager sowie Russland und Iran reagierten auf die Giftgasvorwürfe mit den üblichen Dementis. Die Behauptungen seinen „unlogisch“ und „konstruiert“, erklärte Syriens Informationsminister Omran Zoabi. AFP zitiert ein hochrangiges Mitglied des Regimes mit den Worten, es käme doch einem „politischen Selbstmord“ gleich, hätte die Armee ausgerechnet am ersten offiziellen Arbeitstag der UN-Giftgasexperten Chemiewaffen eingesetzt.
Russland tat den Beschuss ab als eine „geplante Provokation“ der Rebellen. Irans neuer Außenminister Mohammad-Javad Zarif argumentierte, der Angriff müsse von der Seite der Rebellen gekommen sein, weil diese „bereits bewiesen haben, dass sie zu jeder Art von Verbrechen fähig sind“. Die syrische Führung habe die „Terroristen“ erfolgreich zurückgeschlagen.
Chemiewaffen-Einsätze
Chemische Kampfstoffe wie Senfgas oder Phosgen sind in Kriegen immer wieder eingesetzt worden. Bereits im Ersten Weltkrieg wurden Millionen Gasgranaten abgefeuert. Während des Zweiten Weltkriegs benutzte Japan chemische Waffen bei Gefechten in China. Auch bei Terroranschlägen wurden chemische Substanzen verwendet. Einige Fälle und internationale Inspektionen aus der jüngeren Geschichte: Irak: In den 1980er Jahren setzte die irakische Armee im Krieg gegen den Iran unter anderem Senfgas und das Nervengas Tabun ein. Das Regime des Diktators Saddam Hussein griff auch Dörfer und Städte im kurdischen Norden des Landes mit Giftgas an. Allein in Halabdscha starben im März 1988 mindestens 5000 Menschen. Nach dem Krieg gegen Kuwait verpflichteten die Vereinten Nationen 1991 den Irak, seine Massenvernichtungswaffen zu zerstören. Inspekteure einer UN-Sonderkommission sollten die Einhaltung überwachen, der Irak erschwerte ihre Arbeit aber erheblich. US-Präsident George W. Bush begründete den Angriff auf den Irak im März 2003 unter anderem damit, das Land stelle Massenvernichtungswaffen her. Die Behauptung erwies sich später als falsch. Libyen: Das Land trat 2004 der internationalen Chemiewaffen-Konvention bei und meldete 25 Tonnen Senfgas an die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW). Nach dem Sturz von Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 unterstützte Deutschland den OVCW-Einsatz zur Erkundung von Chemiewaffenlagern in der Wüste. Das Gaddafi-Regime hatte mehrere Tonnen Senfgas hinterlassen. Vietnam: Während des Vietnamkrieges zwischen dem kommunistisch regierten Norden und dem von den USA unterstützen Süden (1965 bis 1975) versprühten die Amerikaner massenhaft chemische Mittel wie das hochgiftige „Agent Orange“. Sie wollten damit den dichten Dschungel entlauben, der den Vietcong-Kämpfern als Rückzugsgebiet diente. Japan: Im März 1995 setzte die Endzeitsekte Aum Shinrikyo in mehreren U-Bahn-Zügen in Tokio das Nervengas Sarin frei. Zwölf Menschen starben, mehr als 5000 wurden verletzt. Vertreter der OVCW inspizierten Jahre später die Fabrik, in der die Sekte das Gas produziert hatte. Text: dpa