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Wer soll Papa pflegen?

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Wer soll Papa pflegen?

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    „Würde Ihr Papa hier wohnen wollen?“ Der Pflege-TÜV mit Schulnoten für Pflegeheime steht wegen mangelnder Aussagekraft vor dem Aus.
    „Würde Ihr Papa hier wohnen wollen?“ Der Pflege-TÜV mit Schulnoten für Pflegeheime steht wegen mangelnder Aussagekraft vor dem Aus. Foto: Foto: Frank Rumpenhorst, dpa

    Die Prüfer kommen überraschend. Um neun Uhr morgens stehen sie vor dem Pflegeheim. Einen ganzen Tag lang werden sie dort Bewohner begutachten, Unterlagen sichten und mit dem Personal sprechen. Am Ende steht eine Note. Sie soll verraten, ob das Pflegeheim ein Ort ist, an dem man seine Angehörigen guten Gewissens leben lassen kann – oder ob dort Zustände herrschen, die man Mama und Papa auf keinen Fall zumuten sollte.

    Das ist die Idee, die hinter dem Pflege-TÜV steckt. Theoretisch klingt das alles großartig. In der Praxis aber ist es grandios gescheitert. Denn in dem System wiegt ein schön gestalteter Speiseplan eitrige Wunden auf. Wenn das Essensangebot leserlich präsentiert wird, ist es gar nicht so schlimm, dass die Patienten sich wegen mangelnder Fürsorge wund liegen. Und oft ist der Besuch in der Praxis nicht so überraschend, wie er in der Theorie sein sollte.

    Wie sollen Angehörige da noch wissen, woran sie glauben können? Schon seit Längerem schraubt die Politik immer wieder an dem System Pflege-TÜV herum. Jetzt soll es endgültig abgeschafft werden. Der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann (CDU), will die Durchschnittsnoten für Pflegeeinrichtungen verbannen. Mit einer deutschlandweiten Durchschnittsnote von 1,3 seien sie nicht aussagekräftig, sagte Laumann. Bis Ende 2017 soll das System reformiert werden. Das Notensystem soll zum 1. Januar 2016 ausgesetzt werden.

    Bis dahin führt der Medizinische Dienst der Krankenversicherung, der MDK, die Pflege-TÜV-Prüfungen weiter durch. Doch auch dort sieht man das System kritisch. Dominique Labouvie ist Teamkoordinator des MDK für den Bereich externe Qualitätssicherung in Südbayern. Er ist für 22 Kontrolleure zuständig, die in Schwaben und Teilen Oberbayerns die Prüfungen durchführen. Labouvie sagt: „Es gibt grundlegende Probleme.“ Vor allem die Tatsache, dass die Pflegeheime bei der Gestaltung der Prüfungen mitredeten, führe das System ad absurdum: „Das ist so, als ob Schüler sich ihre eigenen Klausuren schreiben dürften“, sagt Labouvie.

    „Abgesehen davon können sich die Heime gut ausrechnen, wann die Prüfer wieder vor der Tür stehen werden“, sagt ein ehemaliger Altenpfleger aus Augsburg, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Weil die Prüfung einmal jährlich stattfindet, sei es naheliegend, dass in etwa im selben Zeitraum geprüft würde wie im Vorjahr.

    Bisher wird die Gesamtnote in der stationären Pflege laut GKV-Spitzenverband aus 59 Einzelkriterien gebildet, die vier Qualitätsbereichen zugeordnet sind. Den Schwerpunkt bildet dabei der Bereich „Pflege und medizinische Versorgung“. Aus diesem Bereich werden 32 Qualitätskriterien abgebildet. Außerdem werden die Ergebnisse der Themen „Umgang mit demenzkranken Bewohnern“ (neun Kriterien), die „soziale Betreuung und Alltagsgestaltung“ (neun Kriterien) sowie „Wohnen, Verpflegung, Hauswirtschaft und Hygiene“ (neun Kriterien) erfasst.

    Die Note der Einrichtung wird aus dem Durchschnitt aller Einzelpunkte errechnet. „Ein gut geschriebener Speiseplan gleicht also aus, wenn alte Menschen sich wund liegen, weil sie nicht oft genug bewegt werden“, bemängelt der Münchner Pflege-Experte Claus Fussek.

    Für die Angehörigen bleibt am Ende eine Note stehen, die unterm Strich fast immer „sehr gut“ ist – und das, obwohl sie in der Zeitung und im Bekanntenkreis immer wieder von Pflegeskandalen lesen und hören. Da geht es um zu wenig Fürsorge, zu schlechte medizinische Versorgung und zum Teil sogar um Gewalt gegen wehrlose Pflegebedürftige Wie sollen Angehörige da noch wissen, woran sie glauben können?

    Die Prüfer vom MDK treten in den Heimen immer zu dritt auf, sagt Labouvie. Einer von ihnen sichtet im Büro die Unterlagen und überprüft die Räume und Abläufe. Gibt es Hilfestellung zur Eingewöhnung in die Pflegeeinrichtung? Werden im Rahmen der sozialen Betreuung Gruppenangebote gemacht? Gibt es Maßnahmen zur Förderung der Kontaktpflege zu den Angehörigen? Wirken die Bewohner an der Gestaltung der Gemeinschaftsräume mit? Und, wird bei Bedarf Diätkost angeboten? Auf solche Fragen findet der Prüfer bei seiner Untersuchung die Antworten – und benotet das mit einem Punktesystem.

    Seine beiden Kollegen begutachten in der Zwischenzeit Heimbewohner. Nach dem Zufallsprinzip wählen sie dazu neun Pflegebedürftige aus. Wenn die gesetzlichen Betreuer der Senioren das erlauben, untersuchen die Prüfer, wie die Situation der Heimbewohner sich gestaltet. Wird das individuelle Dekubitusrisiko erfasst? Werden individuelle Ernährungsrisiken erfasst? Ist die Flüssigkeitsversorgung angemessen im Rahmen der Einwirkungsmöglichkeiten der Einrichtung? Erfolgt eine systematische Schmerzeinschätzung? Und ist der Umgang mit Medikamenten sachgerecht? Um diese Fragen zu beantworten, stellen die Prüfer den Pflegebedürftigen vorgefertigte Fragen. Und sie untersuchen die Dokumentation, die über jeden Heimbewohner erfolgen muss. „Die Prüfer beschäftigen sich aber mehr mit den Unterlagen als mit den Menschen“, verrät der ehemalige Altenpfleger.

    „Natürlich ist auch allen Beteiligten klar, dass es sich um eine Prüfungssituation handelt – wir bekommen immer nur einen Ausschnitt zu sehen“, sagt Pflege-TÜV-Experte Labouvie. „In dieser Situation wird es natürlich nicht zu Gewalt gegen Pflegebedürftige kommen.“

    Auch eine Dozentin an einer Altenpflegeschule erzählt gegenüber der Redaktion, wie solche Prüfungen ablaufen. Auch sie will aus Angst um ihren Job anonym bleiben. „Da traut sich keiner, etwas Negatives zu sagen“, erzählt sie. Dass nur die Papiere überprüft werden, sei „blanker Hohn“. „Papier ist geduldig“, sagt die Dozentin.

    „Man kreuzt halt an, dass man alles erledigt hat, egal ob das stimmt oder nicht“, sagt auch der ehemaliger Pfleger, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. „Was in den Leistungsnachweisen angegeben ist, kann überhaupt nicht geleistet werden“, sagt die Dozentin. „Und jeder weiß, dass die Note, die dabei herauskommt, Blödsinn ist“, sagt Pflegeexperte Claus Fussek. „Diesen Pflege-TÜV braucht man nicht, weil die Kriterien, um ein Heim zu finden, ganz andere sind.“ Fussek zählt auf, worauf Angehörige bei der Auswahl des richtigen Pflegeheimes achten sollten: Das Heim muss in der Nähe sein – in jedem Heim muss man Mama oder Papa auch besuchen. Sind dort Freunde? Gibt es Einzelzimmer oder Doppelzimmer? Gibt es einen Garten? Wie ist die Atmosphäre? Wie ist die fachärztliche Versorgung? Das seien die Fragen, auf die es bei der Auswahl eines Heimes wirklich ankomme, meint der Experte.

    Statt der Noten soll es in Zukunft Kurzberichte über Heime und ambulante Pflegedienste geben. Statt einer Note werden Texte beschreiben, wie es in dem Heim zugeht. In einem zweiten Schritt soll dann anhand von messbaren Kriterien die Qualität von Pflege und Betreuung für Verbraucher vergleichbar gemacht werden, heißt es. Die Kriterien sollen laut dem Pflegebevollmächtigten Laumann zufolge wissenschaftlich fundiert und nicht interessengeleitet erstellt werden. In dem zuständigen Gremium sollen künftig auch die Verbände der Pflegebedürftigen und der Pflegeberufe gleichberechtigt mit Stimmrecht vertreten sein.

    Von der Reform verspricht sich Laumann „mehr Partizipation und Transparenz“. Die gesetzliche Regelung will er in das Pflegestärkungsgesetz II aufnehmen. Auch Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) ist dafür. „Pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen brauchen verlässliche Informationen, um eine gute und für sie passende Pflegeeinrichtung zu finden“, sagt Gröhe. Der bisherige Pflege-TÜV leiste das nicht und sorge eher für Verunsicherung, stellte er fest.

    Gernot Kiefer, Vorstand des GKV-Spitzenverbandes, erklärt dazu: „In ihrer heutigen Form haben die Pflegenoten ihren Zweck, echte Transparenz über die Qualität von Pflegeeinrichtungen zu schaffen, grob verfehlt. Die heutigen Pflegenoten sind das Produkt eines unzureichenden gesetzlichen Rahmens, der klare Entscheidungen verhindert und faule Kompromisse befördert hat.“ Und weiter: „Es geht nicht um die Abschaffung von Transparenz, sondern um ihre Weiterentwicklung und realistische Darstellung. Übergangsweise die Prüfungsergebnisse in Form von Kurzzusammenfassungen darzustellen, ist eine Hilfskonstruktion, die die Probleme naturgemäß nicht vollständig lösen kann.“

    „Einen Kindergarten sucht man ja auch nicht anhand von Internetbewertungen aus, sondern man geht hin, sieht ihn sich selbst an und spricht mit den Menschen dort“, sagt die Altenpflege-Dozentin. „Ohne Angehörige, die ihre Eltern und Verwandten regelmäßig besuchen, geht es nicht“, sagt auch der ehemalige Augsburger Pfleger. Den Pflege-TÜV „ersatzlos streichen und das Geld, das dafür verwendet wird, lieber in eine Verbesserung der Pflege investieren“ wäre die beste Lösung, schlägt Claus Fussek vor. Und sagt: „Das ist ein riesiges Geschäft. Ganze Beratungsfirmen leben davon. Die Beratungsfirmen beraten die Mitarbeiter jedes Pflegeheimes, damit sie eine gute Note bekommen.“

    Wie sollen Angehörige da noch wissen, woran sie glauben können? Einen ganzen Tag lang verbringen die MDK-Prüfer in einem Heim, um am Ende zu ihrer Durchschnittsnote zu kommen. Angehörige sollten sich davon aber nicht blenden lassen, rät Fussek: „Gehen sie selbst hin. Schauen Sie, schnuppern Sie und sprechen Sie. Würde Ihre Mama sich hier wohlfühlen? Würde Ihr Papa hier wohnen wollen? Das kann man nicht an einer Note festmachen. Das muss man spüren.“

    Pflege in Deutschland

    Die Zahl der Menschen, die pflegebedürftig sind, steigt in Deutschland stetig. Anfang des Jahres waren in der Bundesrepublik 1 818 052 Menschen als „Leistungsbezieher der sozialen Pflegeversicherung“ im ambulanten Bereich gemeldet. 750 884 Pflegebedürftige, die solche Leistungen beziehen, wurden stationär betreut. In den vergangenenen zehn Jahren ist die Zahl der Pflegebedürftigen so insgesamt von 1 925 703 auf 2 568 936 gestiegen. Die Leistungsausgaben der sozialen Pflegeversicherung beliefen sich so 2014 auf insgesamt 24,2 Milliarden Euro. Auch die Zahl der Pflegeeinrichtungen ist im Lauf der vergangenen Jahre stetig gestiegen. 2003 gab es in Deutschland noch 9743 stationäre und 10 619 ambulante Pflegeeinrichtungen. 2013 waren es deutschlandweit schon 13 030 stationäre und 12 745 ambulante. In Bayern sind es 1751 stationäre und 1845 ambulante Pflegeeinrichtungen. Das Risiko auf Pflegebedürftigkeit liegt bei Menschen unter 60 Jahren bei 0,8 Prozent. Zwischen 60 und 80 Jahren liegt es bei 5,1 Prozent. Ab dem Alter von 80 Jahren steigt die Wahrscheinlichkeit für eine Pflegebedürftigkeit auf 31,2 Prozent. Text: AZ, Quelle: Bundesministerium für Gesundheit

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