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BERLIN: Wie deutsch ist es, nicht stolz zu sein?

BERLIN

Wie deutsch ist es, nicht stolz zu sein?

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    Die geteilte Seele: Viele Deutsche haben gelernt, Nationalstolz als etwas Negatives zu empfinden, sagt der Psychologe Ulrich Schmidt-Denter.
    Die geteilte Seele: Viele Deutsche haben gelernt, Nationalstolz als etwas Negatives zu empfinden, sagt der Psychologe Ulrich Schmidt-Denter. Foto: Foto: Frederik von Erichsen, dpa

    Hätte Marilyn vor mehr als 25 Jahren hier gestanden, man hätte wohl auf sie geschossen. Die junge Frau aus New York kümmert das jedoch nur wenig. Nickend drückt sie noch einmal auf den Auslöser ihrer Kamera und betrachtet anschließend den Reichstag auf dem kleinen Display. Zwischen ihren Füßen verläuft die kleine Linie aus Steinplatten, die sich von der Spree aus am Reichstag vorbei schlängelt. Es ist der ehemalige Grenzverlauf der Berliner Mauer, die einst die Bundesrepublik in zwei separate Staaten trennte und damit auch ein ganzes Volk zerriss. Bis heute ist nicht geklärt, wie viele Menschen beim Versuch, die DDR zu verlassen, an der innerdeutschen Grenze starben. 1613 Opfer zählt das Museum am berühmten Checkpoint Charlie auf, Experten rechnen mit deutlich höheren Zahlen.

    Ein Vierteljahrhundert ist diese dunkle Zeit nun her, 25 Jahre sind seit der Wiedervereinigung vergangen. Der 3. Oktober 1990 ist der Endpunkt einer historischen Entwicklung. Die Bilder vom Sturm der Mauer und dem Zusammenwachsen eines Volkes haben eine ganze Generation geprägt. Heute benennen junge Deutsche diese Ereignisse als einen Schlüsselmoment der deutschen Geschichte. Sie sind stolz auf diese friedliche Revolution.

    Sie sind stolz darauf, Deutsche zu sein und schämen sich nicht, das auch zu sagen. Das unterscheidet sie oft von ihren Eltern. Denn Nationalstolz ist auch heute noch eine seltene Erscheinung in Deutschland. Doch warum mag sich der Deutsche nicht?

    Diese Frage beschäftigt den Kölner Psychologen Ulrich Schmidt-Denter seit mehr als 15 Jahren. Grundlage seiner Untersuchungen sind Interviews mit Deutschen aller Altersschichten. Aus einem Katalog von komplexen Fragen und Antworten hat er Aussagen erstellt, die über uns als Volk getroffen werden können. „Junge Menschen sind am stolzesten auf die friedliche Wiedervereinigung“, erzählt Schmidt-Denter. „Doch wir haben in unserer Gesellschaft auch eine tief verwurzelte Furcht vor Nationalstolz. Viele haben die Sorge, dass daraus so etwas wie ein neuer Nationalsozialismus erwächst.“ Der Deutsche habe gelernt, Stolz als etwas Negatives zu empfinden, erklärt Schmidt-Denter.

    Ein Grund dafür ist auch unser Bildungssystem, findet der Wissenschaftler. So sei in der Schule vor allem die Nazizeit ein großes Thema im Geschichtsunterricht. „Das wird natürlich fast jedes Jahr durchgekaut“, erzählt der Psychologe. „Da wird den Kindern schon sehr deutlich gesagt: Das passiert, wenn man sich als Deutscher besser und größer fühlt als alle anderen.“ Diese Lehrmeinung sei jedoch veraltet und destruktiv, findet Schmidt-Denter. „Nationalstolz ist nicht schlecht, sofern er fest verwurzelt ist. Wenn er nicht nur darauf basiert, andere zu überflügeln.“

    Als ein Beispiel für gesunden Stolz nennt Schmidt-Denter unsere Wirtschaft. Sie kann selbst mit den großen Weltmächten mithalten. Auch Marilyn und ihr Freund Mark bewundern das an Deutschland. Im Regierungsviertel von Berlin bestaunen sie die großen Glasbauten. Mark wirft immer wieder der Fahrbereitschaft des Bundestages bewundernde Blicke zu. Dort stehen sie, die Flaggschiffe der deutschen Industrie. VW, BMW, Mercedes und Audi. „Autos sind sehr deutsch“, findet der Tourist aus Ohio, der stolz darauf ist, den Nachnamen Schneider zu tragen. „Es ist eine Verbindung, die mir viel bedeutet“, sagt er.

    Vor vielen Jahren wanderten seine Vorfahren aus Deutschland in die USA aus. In den Staaten halte man große Stücke auf die Deutschen, betont Mark. Auf ihre Erfolge und vor allem ihre Ingenieurskunst.

    Gerne würde Mark ein paar Schritte auf die Autos zugehen, doch ein Posten der Polizei hält ihn davon ab. Rund um den Reichstag besteht eine Sicherheitszone, die die Touristen auf Abstand halten soll. Ärgerlich ist das für Mark aber nicht, wie er sagt. „Ich finde es eher verwunderlich, dass die Deutschen so vertrauensvoll sind“, erklärt er lächelnd. Er erzählt von einigen Erfahrungen mit der berühmten Berliner Schnauze, lacht und schüttelt anschließend den Kopf. „Aber die Deutschen sind abgesehen davon extrem freundliche, offene und herzensgute Menschen. Es ist wirklich erstaunlich, dass sie das selbst nicht in sich sehen wollen.“ Der Amerikaner winkt ab und zuckt mit den Achseln. „Aber vielleicht ist das ebenfalls typisch deutsch.“

    Mark und Marilyn verabschieden sich. Sie zieht es weiter auf die Museumsinsel, dem Treffpunkt für Kulturinteressierte in der Hauptstadt. Die großen Kuppelbauten beherbergen diverse Ausstellungen, von moderner bis klassischer Kunst. Weithin gilt Deutschland auch heute noch als das Land der Dichter und Denker. Klangvolle Namen wie Goethe, Schiller oder Kant erfüllen Deutsche mit Stolz. Viele Bundesbürger gaben in Befragungen von Schmidt-Denter an, glücklich über dieses Erbe zu sein.

    Über 250 Milliarden Euro geben wir im Jahr für Bildung aus. Das sind nahezu zehn Prozent des Bruttoinlandproduktes der Republik, wie das Ministerium für Bildung und Forschung errechnet. Über 6000 Museen gibt es in Deutschland. Spitzenreiter sind dabei die Bundesländer Bayern mit über 880 und Baden-Württemberg mit über 780 Gebäuden. Sie zeigen technische oder kulturelle Errungenschaften, oft ist ihr Thema jedoch der Aufstieg und Fall von Diktaturen. Auch die Dichter und Denker tragen in Deutschland schwer an der Last der NS-Zeit, wie Jochen Staadt von der Freien Universität Berlin sagt.

    Der Soziologe warnt, jede Art des Nationalstolzes als eine Randerscheinung des Nationalsozialismus zu sehen. „Jeder braucht eine eigene Biografie und eine Heimat“, sagt der Fachmann. „Wenn Stolz darauf basiert, dass man auf seine eigenen Wurzeln stolz ist, dann ist das weder gefährlich noch ungesund.“ Doch versteht Staadt auch das Gefühl vieler Bürger in den neuen Bundesländern, die auch nach 25 Jahren noch immer nicht warm werden können mit der Bundesrepublik. „Wer den Zerfall eines politischen Systems mitgemacht hat, wird sich kaum im Nachhinein mit demjenigen identifizieren, welches er lange bekämpft hat.“

    Auch deswegen gibt es ein klares Gefälle in Deutschland. Es geht vom Norden in den Süden. Das zeigen die Studien des Psychologen Schmidt-Denter. Vor allem die Bayern und Baden-Württemberger sind stolzer als Berliner oder Hamburger. Dabei werde jedoch meist noch einmal unterschieden, ergänzt Soziologe Staadt: „Zuerst ist man Bayer oder Badener oder Württemberger, dann ist man Europäer und zuletzt auch noch Deutscher.

    “ Doch entfache, sagen die Forscher, eine Sache stets über alle Grenzen hinweg wahren Nationalstolz: König Fußball.

    Um das Berliner Olympiastadion weht an diesem Tag ein kräftiger Wind, außer an Spieltagen gibt es täglich Führungen für Touristen und Besucher. Auch dieser Bau ist ein Erbe aus der Nazizeit. Inzwischen kämpft in dem berühmten Rund an jedem zweiten Wochenende die Berliner Hertha in der Bundesliga. Hin und wieder tritt aber auch die deutsche Nationalmannschaft auf. Dann versinkt nicht nur das Stadion in einem Fahnenmeer aus Schwarz, Rot und Gold. Als Mario Götze im vergangenen Jahr das entscheidende Tor der Weltmeisterschaft in Brasilien gegen Argentinien schoss, war auch hier die Freude grenzenlos. Im und um das Olympiastadion tobte und tanzte eine ganze Fanmeile.

    Heute ist der Jubel dem Alltag gewichen. Es ist ein bisschen, wie der amerikanische Soziologe Benjamin Duclos in seiner 2008 erschienen Abhandlung über die Identität der Deutschen und den Fußball beschreibt: „Nationalstolz ist sehr erwünscht. Aber nur alle zwei Jahre und nur in der Zeit der Turniere.“

    Doch etwas hat sich in Deutschland verändert. Spätestens seit dem Sommermärchen, der Heim-WM 2006. Seitdem gehören Flaggen und Fahnen zum Bild dazu. Zumindest könnte man das meinen. Auch vor dem Stadion werden sie verkauft. Für Thomas Lünser ist das jedoch alles vollkommen überzogen. Nahe dem Alexanderplatz und dem Roten Rathaus in Berlin hat er ein kleines Geschäft, das sich auf Fahnen und Flaggen aus aller Welt spezialisiert hat. Seit 17 Jahren gibt es inzwischen den Laden.

    Lünser stammt aus Thüringen, wo er vor 52 Jahren geboren wurde. Im Laufe seines Lebens brachte er es bis ins Außenhandelsministerium der DDR. Nach der Wende arbeitete er für eine arabische Handelsgesellschaft und machte sich schließlich mit dem Flaggenhaus am Alex selbstständig. Im Schatten des Fernsehturms sitzt er nun umgeben von den europäischen Sternen, den deutschen Farben oder dem bayerischen Löwen. Und kann viele Geschichten erzählen.

    Deutsche kaufen bei ihm gerne ein, erzählt Lünser lächelnd. Schwarz, Rot und Gold werde es aber selten. Vielmehr sind die Flaggen der Bundesländer gefragt. „Föderales Interesse“ nennt der Fachmann das. Nur alle zwei Jahre, wenn der Sport zum Nationalstolz ruft, verkaufe er auch viele Deutschland-Fahnen, erzählt der Händler. Auch wenn er selbst die Begeisterung nicht verstehen könne. Lünser schnaubt laut, wenn er darauf angesprochen wird. „Warum sollte ich irgendwelchen überbezahlten Millionären beim Kicken zujubeln?“, fragt er dann. „Wie kann ich darauf stolz sein?“ Kurz blickt Lünser auf die Flaggen in seinem Laden. Darunter ist auch die alte Fahne der DDR. „Generell mag ich das Wort ,Stolz‘ nicht. Ich musste in meiner Kindheit auf so vieles stolz sein, schon staatlich verfügt.“ Heute habe er genug davon, erzählt er.

    So blickt Lünser gelassen auf den Tag der Deutschen Einheit. Er freut sich darauf. Es ist sein Geschäft. Auch wenn ihm dieser Tag persönlich nichts gebe, wie er sagt. „Das war keine große Leistung, sondern verdammtes Glück, dass damals alles so gelaufen ist. Dafür kann sich niemand auf die Schulter klopfen.“

    Lünser geht es wie vielen Deutschen. Er mag seine Heimat. Doch stolz ist er lieber auf seine eigenen Erfolge. Und auch wenn er sich gerne als „untypischen Deutschen“ bezeichnet, ist er damit doch typischer als er denkt.

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