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BRÜSSEL: Wo Zensur künftig erlaubt ist

BRÜSSEL

Wo Zensur künftig erlaubt ist

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    Eine neue Regel des EU-Parlaments gestattet dem Präsidenten, Liveübertragungen zu unterbrechen, wenn Abgeordnete sich diffamierend äußern.
    Eine neue Regel des EU-Parlaments gestattet dem Präsidenten, Liveübertragungen zu unterbrechen, wenn Abgeordnete sich diffamierend äußern. Foto: Foto: Christophe Karabe, dpa

    Der Zwischenfall ereignete sich am späten Mittwochabend. Die Abgeordneten des Europäischen Parlamentes in Brüssel debattierten gerade die wachsenden Unterschiede bei der Bezahlung von Männern und Frauen, als sich der 74-jährige, polnische Abgeordnete Janusz Korwin-Mikke von der nach ihm benannten rechtsextremen Korwin-Partei zu Wort meldete: „Natürlich müssen Frauen weniger verdienen als Männer“, rief er ins Plenum. „Denn Frauen sind schwächer, sie sind kleiner und sie sind weniger intelligent.“

    Die Aufzeichnung des Zwischenrufes mit dem anschließenden Tumult und der Ankündigung des Sitzungspräsidenten, gegen den Polen ein Verfahren einzuleiten, kann man im Archiv des Parlamentes und inzwischen auch auf Youtube abrufen – noch. Denn derart sexistische Äußerungen sollen schon bald einer Zensur zum Opfer fallen.

    Bühne für Ausfälle

    Dies sieht die neue Geschäftsordnung der Abgeordnetenkammer vor. Die ist zwar schon seit Anfang des Jahres in Kraft. Bisher fiel aber niemandem wirklich auf, welche Überraschung die Volksvertreter sich da selbst in ihr Regelwerk geschrieben hatten – ausgerechnet unter dem Stichwort „Transparenz“. Dort wird festlegt: „Kommt es zu diffamierenden, rassistischen oder fremdenfeindlichen Äußerungen oder Verhaltensweisen“ darf der Parlamentspräsident die Live-Übertragung im Internet unterbrechen.

    Mehr noch: Die entsprechende Passage kann künftig auch aus dem Online-Archiv der Abgeordnetenkammer gelöscht werden. Lange genug, so heißt es, hätten sich die Mandatsträger über Äußerungen von Rechten und Linken geärgert, die das Plenum als Bühne für ihre Ausfälle nutzen. Wie der griechische Politiker Eleftherios Synadinos, der im März 2016 die Türken als „dumme und schmutzige Barbaren“ bezeichnete, denen man „nur mit der Faust und mit Entschlossenheit“ begegnen könne.

    Der damalige Parlamentspräsident Martin Schulz warf den Hellenen kurzerhand raus und sperrte ihn für mehrere Sitzungen. Hier seien „rote Linien überschritten worden, um den Rassismus salonfähig zu machen“, betonte der inzwischen zum SPD-Kanzlerkandidaten aufgerückte Schulz damals.

    „Das Parlament sollte rassistische Propaganda nicht noch übertragen“, begründete der für die Überarbeitung der Geschäftsordnung zuständige Berichterstatter, der Brite Richard Corbett, die Zensur. „Die Provokation und das Vorführen anderer ist Teil des Geschäftsmodells von Extremisten“, betonte die CDU-Europa-Politikerin Ingeborg Gräßle. Und auch ihr Fraktionskollege Rainer Wieland stellte klar: Die Sperrung des Live-Streams und die Löschung von Archivaufnahmen werde nur in besonders krassen Fällen eingesetzt. Wieland: „Das muss über den normalen Ordnungsruf hinausgehen.“

    Kritik an Verfahren

    So verständlich diese Auffassungen auch sein mögen, Journalistenverbände und Europarechtler halten Eingriffe für problematisch. „Wo beginnt die Diffamierung, wo endet die harte Debatte“, fragte der Göttinger Jurist Peter Thiele. Löschungen im Archiv, das der zeitgeschichtlichen Dokumentation dienen soll, werden von vielen abgelehnt.

    Auch das Verfahren selbst stößt auf Kritik. Der Parlamentspräsident kann die Übertragung unterbrechen, das Präsidium muss diesen Eingriff bestätigen – innerhalb der folgenden vier Wochen. Da liegt ein Vorfall lange zurück und wurde bereits zigfach auf anderen Kanälen verbreitet, heißt es in Brüssel. Der zensierte Volksvertreter hat übrigens keine Möglichkeit, sich zu wehren.

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