Bis man in Neuhof ist, muss man lange durch den Wald fahren. Erst recht, wenn man über Ruppertshütten und die Bayrische Schanz kommt. Von Gemünden aus braucht man auf diesem Weg knapp eine halbe Stunde. Hinter Rengersbrunn zweigt irgendwann ein schmales Sträßchen ab und führt noch zwei Kilometer durch den Wald. Dann ist man im Fellener Ortsteil Neuhof: sechs Häuser, eine ehemalige Gaststätte, acht Einwohner, kein Handyempfang. In diesem wohl abgelegensten Ort des Landkreises Main-Spessart sind 15 Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien untergebracht.
„Sie sind mitten in Deutschland“, ruft Rita Goßmann, die ehemalige Wirtin vom „Gasthaus zum Waldfrieden“, als der Mann von der Presse nach der Ankunft auf eine Tafel mit Landkarte blickt. Die seit Anfang 2014 geschlossene Gaststätte ist nun das vorübergehende Zuhause von drei jungen Familien mit sieben kleinen Kindern sowie von zwei jungen Verwandten, einem 14-jährigen Neffen und einem 21-jährigen Bruder.
Sieben kleine Kinder
Kleine Kinder – das hat es in Neuhof lange nicht gegeben. Zuletzt wurde Rita Goßmanns Sohn Klaus-Uwe geboren, inzwischen 27 Jahre alt und Wirt der Flüchtlinge. Und jetzt sind es gleich sieben, bald sogar acht. Das älteste Mädchen ist vier, das derzeit jüngste Kind drei Monate alt. Zusammen mit ihrem Sohn und den zwei pensionierten Nachbarinnen und Schwestern Heidi und Marlies kümmert sich Rita Goßmann rührend um die Flüchtlinge. Und das, obwohl eine Verständigung meist nur über Hände und Füße möglich ist. Rita Goßmann ficht das nicht an: Fröhlich plaudert sie mit den Flüchtlingen fränkisch-hochdeutsch drauflos, spielt mit den Kindern, nennt den kleinen Hussein „Hussi“, ein Mädchen „mein Engel“.
An diesem recht trüben Dezembertag wacht der einzige, der ein paar Brocken Englisch kann, am Bettchen seines drei Monate alten, offenbar schwer kranken Babys in der Uniklinik in Würzburg. Deshalb beschränkt sich das Gespräch an einem runden Tisch, unter einem Leuchter aus Geweihstangen, auf ein Gespräch über die Flüchtlinge.
Zwei der Familien sind verschwägert, die Väter Schuhmacher und Kosmetikverkäufer und kommen aus der – man muss sagen: einstigen – Millionenstadt Aleppo. Ein krasser Gegensatz zu Neuhof. Seit Ende Oktober sind sie hier, per Schiff über die Türkei und Libyen nach Europa geflohen. Auf der Flucht wird ein Kind geboren. Sein Haus, so viel kann der 28-jährige Mustafa erklären, ist in Schutt und Asche gelegt, zur Zeit macht er sich Sorgen um seine Eltern, die er seit Längerem nicht mehr erreicht. Die dritte Familie ist kurdisch, kommt aus der im Nordosten Syriens gelegenen Großstadt Al-Hasaka, der Vater ist Fliesenleger. Sie kam per Lastwagen über die Türkei, Bulgarien, Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland. Immer dabei: die kleinen Kinder.
Jetzt also Neuhof. Klaus-Uwe Goßmann hat für die Familien die Waschküche in eine Küche umgebaut, damit sie sich selber kochen können. Es gibt oft Hähnchen, Gemüse, mit Reis gefüllte Weinblätterrouladen, morgens Fladenbrot, Eier, Honig und Quark. „Die Kinder sind so scharf auf Eier“, sagt Rita Goßmann. „Da drüben gibt's anscheinend keine“, mutmaßt sie. Sie muss die Kinder immer bremsen und redet den Müttern ins Gewissen, dass es doch nicht gut ist, so viele Eier zu essen.
Bei so vielen hungrigen Mäulern sind regelmäßige Großeinkäufe nötig. Für alle Besorgungen ist man in Neuhof aufs Auto angewiesen. Dann geht's nach Burgsinn, Gemünden, auch Karlstadt, wo es türkische Lebensmittelläden gibt mit Dingen, die sonst kein Laden zu bieten hat. Nachbarin Heidi hat extra für die Flüchtlinge ein altes Moped wieder angemeldet und sie dürfen auch ein altes Mercedes-Büsschen nehmen. Auch Fahrräder, aber da sieht sie selbst ein: „Das bringt ja auch nicht so viel.“ Ansonsten wird jede Fahrt aus Neuhof hinaus zur Mitfahrgelegenheit oder zum Transport genutzt. Klar ist, dass nicht immer alle gleichzeitig mitkönnen.
Interessant wird es, wenn mal die Frauen weg sind und die Männer dann mit den sieben wilden Kindern alleine sind. Das, so Rita, Heidi und Marlies, sei offenbar nicht das syrische Rollenverständnis, das merke man. Dort verlassen Frauen anscheinend kaum das Haus, haben sie den Eindruck. Heidi hat den Männern deshalb schon gesagt, dass in Deutschland angeblich die Frauen das Sagen haben. Im kleinen Neuhof wird ihnen niemand etwas anderes erzählen.
Bei so vielen kleinen Kindern ist ständig was los, erzählt Rita Goßmann. Und sie haben ständig irgendetwas – sie stürzen, beißen sich auf die Zunge, erkälten sich laufend. Den ganzen Tag müsse sie den Kindern hinterherrennen und schauen, dass sie Strümpfe anhaben. Ständig müssten sie zum Doktor, bei kleineren Sachen müssen Hausmittelchen helfen. Die Familien sind gleich mal durchgeimpft worden, erzählt sie. Für Arztbesuche nimmt sie oft eine türkische Freundin aus Burgsinn mit, die dolmetschen kann, weil zwei der Frauen türkisch können.
Heidi und Marlies, beide pensionierte Lehrerinnen, geben den Flüchtlingen drei- bis viermal in der Woche Deutschunterricht. Heidi unterrichtet die Männer bei sich im Wohnzimmer, ihre Schwester Marlies die Frauen in der ehemaligen Gaststätte. Marlies hat ein deutsch-arabisches Wörterbuch mit Bildern, Heidi will es jetzt mit einem Internet-Deutschkurs des Goethe-Instituts versuchen.
Männer leiden unterm Nichtstun
Die Einsamkeit und das erzwungene Nichtstun machen den Flüchtlingen zu schaffen, die Männer packen bei allen möglichen Dingen mit an, wollen unbedingt arbeiten. Eigentlich, so Rita Goßmann, habe sie gedacht, in Neuhof gebe es keinen Handyempfang, aber in einem Baum in der Nähe scheine es doch zu gehen, wie die Flüchtlinge herausgefunden haben. Deshalb sitzen sie nun mitunter dort im Baum und telefonieren. Wie das mit den Handykosten funktioniert, sei nicht klar.
In und um Neuhof gibt es viel Anteilnahme für die Flüchtlinge. Im November wurde extra für die Flüchtlingskinder ein Martinszug in Wohnrod organisiert, mit Martin und Pferd und allem drum und dran. Die Kindergartenkinder aus Ruppertshütten waren ebenso schon zu Besuch wie die Zeugen Jehovas. Die Zusammenarbeit mit dem Landratsamt und der Flüchtlingsberatung der Caritas klappe einwandfrei und an Kleidung mangele es den Flüchtlingen nicht, aber die Neuhoferinnen überlegen jetzt, ob sie ein Konto für Geldspenden einrichten sollen.
Die Kinder, die den Fellener Kindergarten besuchen, lernen Deutsch dort im wahrsten Sinne des Wortes spielerisch. Neulich wunderte Klaus-Uwe Goßmann sich, weil er Kinderstimmen hörte, die Deutsch redeten. „Alle versteckt? Ich komme.“ Die Erklärung: Die syrischen Kinder spielten Verstecken – auf Deutsch.