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Die Urkunde wurde erst in letzter Sekunde fertig

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Die Urkunde wurde erst in letzter Sekunde fertig

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    Nicht ganz einfach, das herauszufinden. Selbst 20-bändige Lexika führen zwar Begriffe wie Europaschiff, Europakanal, Europaschulen und Europastraßen, Aussagen über die "Europastadt" aber sind nicht zu finden. Der Europarat hilft auch nicht weiter: Der setzte sich erst 1954 mit der Idee "Europastadt" auseinander, im Oktober 1957 beschloss die erste Europäische Gemeindetagung in Versailles, den Titel Europastadt zu verleihen.

    Offizielle Verleihungen des Titels durch den Rat gab es, wie in Röttingen anläßlich des 25-jährigen Jubiläums recherchiert wurde, erst um 1959, sechs Jahre nach der Röttinger Proklamation. Dass sich Breisach am Rande des Schwarzwaldes als erste Europastadt bezeichnet, weil sich die Bürger dort 1950 mit 98 Prozent Ja-Stimmen für die Europäische Vereinigung aussprachen - nun ja. Zu einer offiziellen Ausrufung Breisachs als Europastadt kam es in dem Grenzort zwischen Baden und dem Elsass zu diesem Zeitpunkt jedenfalls nicht.

    Die Röttinger stört das wenig. Viel wichtiger ist ihnen, das Jubiläum zu begehen, und das richtig. Immerhin hat das Städtchen Einiges zu feiern in diesem Jahr: 900-Jahrfeier, 50 Jahre Europastadt, 25 Jahre Städtepartnerschaft mit dem österreichischen Bad Mitterndorf, dazu 20 Jahre Festspielort. Wer so viel zum Feiern hat, muss nicht mit allzu großem Ernst auf seinem Erstlingsrecht beharren.

    Fakt ist, dass schon am 30. August 1953 die Europafahne vom Röttinger Rathaus wehte, die mit dem großen grünen "E". Man feierte das Gauvolksfest - an sich schon Publikumsmagnet. Bei strahlendem Sonnenschein, dazu im 850. Jubiläumsjahr der Stadt, erklärte sich der kleine Ort im Taubertal zur Europastadt.

    Röttingens damaliger Bürgermeister Georg Biebelmann erkannte in seiner Festrede an, wem die neue Fahne zu verdanken war: "Unsere Jugend ist es vor allem, die den Gedanken an ein freies, geeintes Europa im Herzen trägt." Dass die Proklamation einen Meilenstein in der Geschichte der Europäisierung darstellte, war Biebelmann klar. Röttingen verstand sich als durchaus beispielgebend für die Entwicklung eines friedlichen, freien und glücklichen Europas, das Tyrannei, Armut und Krieg eine entschiedene Absage erteilt.

    Acht Unterschriften bezeugen den Akt: Paul Kühne unterzeichnete für den Bayerischen Landesverband der Europa-Union, Heini Schneider als Bundesvorsitzender des Bundes Europäischer Jugend, Landrat Remling setzte seine Unterschrift namens des Staates Bayern unter die Urkunde, Bürgermeister Georg Biebelmann für die Stadt Röttingen. Natürlich durften auch die Unterschriften der eigentlichen Förderer der Idee nicht fehlen: Phillippe Ausset und Vasili Dumitrescu von der Jeunesse Européenne Fédéralistes zeichneten für die west- und osteuropäische Europa-Jugend, Werner Repplinger signierte als unterfränkischer Bezirksvorsitzender des Bundes Europäischer Jugend und schließlich Elmar Düll, der die Europastadt-Initiative mit großem Elan vorangebracht hatte und mittlerweile Kreisvorsitzender des Bundes Europäischer Jugend war. Et voilà: Röttingen war Europastadt.

    Das Medien-Echo

    Das Röttinger Europa-Signal ließ aufhorchen: Mehr als 70 verschiedene Medien, Radio, Fernsehen und Zeitungen aus ganz Europa waren zur Stelle, als die Proklamation zur Europastadt feierlich verlesen wurde. "Röttingen - erste Europastadt Europas": Unter diesem Titel berichtete die MAIN-POST am 31. August 1953 über die feierliche Proklamation auf dem Röttinger Marktplatz. "Stadtrat und Bevölkerung haben damit zum Ausdruck gebracht, dass sie gewillt sind, dem Frieden und der Freiheit der Vereinigten Staaten von Europa zu dienen und an einem gemeinsamen Europa mitzuarbeiten."

    Der Vertreter der Jugend Osteuropas, der Rumäne Vasili Dumitrescu, wird mit der Erklärung zitiert, dass "jede Nation den Wert habe, den sie den anderen Nationen zubillige". Die MAIN-POST berichtete über die Ansprache von Paul Kühne, dem Landesleiter der Europäischen Jugend Bayern: "Zum ersten Mal in der Geschichte habe eine Stadt beschlossen, den europäischen Gedanken aufzunehmen und zu pflegen."

    Die Vorgeschichte

    Nach Röttingen gebracht hatte die Europa-Idee ein weltläufiger Sohn der Stadt: Elmar Düll. Nach Ende der knapp zweijährigen Kriegsgefangenschaft arbeitete Düll in Würzburg und Augsburg beim Suchdienst der Vereinten Nationen, kehrte im März 1952 nach Auflösung des Suchdienstes in seine Heimatstadt zurück. Etwas verschlafen, erinnert er sich, sei der Weinort da noch gewesen, fast abgeschlossen von der politischen Außenwelt und "ziemlich bedeutungslos auf der nationalen und europäischen Bühne".

    Dülls Lehre aus der Kriegserfahrung: Menschen sind Menschen, egal, wo sie leben. Diese Auffassung teilten etliche junge Röttinger, fränkische Urgewächse ebenso wie Flüchtlinge, Ausgewiesene und Ausgebombte, die sich in dem Weinort angesiedelt hatten. Sie erlebten sich selbst als Opfer des Krieges, wollten erneutem Aufleben von Nationalismus eine entschiedene Absage erteilen.

    Nächte lang diskutierten sie über die Zukunft Europas. Düll erinnert sich etwa an Paul Baron, dessen Vater als Landwirtschaftsrat über viele Verbindungen verfügte, oder an Eugen Hörmann, der als Schwiegersohn des damaligen Bürgermeisters die Gruppe förderte, an Marianne Kohlenberger, Alfred Fries, Hermann Mohr und die Röttinger Bürger Danzler, Burger, Wiesberg, Kentrup und andere.

    Das Häuflein der Kriegsgegner lud den Würzburger Studienrat Werner Repplinger zu einem Vortrag über die Europaidee ein. Der überzeugte: Noch am selben Abend entstand eine starke Kreisgruppe des Bundes Europäischer Jugend. Elmar Düll wurde ihr Vorsitzender.

    Sprudelnde Ideen

    Die Ideen sprudelten nur so: Röttingens Burg Brattenstein sollte "Europaburg" werden. Was kämpferisch klingt, war ein friedliches Unterfangen: Eine europäische Jugendherberge sollte in der Burg entstehen. Einen europäischen Campingplatz wollten sie gründen, um Begegnungen zu ermöglichen, aus denen sich ein dichtes Netz internationaler Freundschaften entwickeln würde. Kriegstreiber hätten dann keine Chance mehr, genau diese Jugend gegeneinander aufzuhetzen.

    Die Medien belächelten das junge europäische Häuflein. Immerhin: Im Ort wuchs die Unterstützung. "Der Bürgermeister stellte uns Räumlichkeiten in der alten Burg Brattenstein zu Verfügung, so dass wir ein Büro einrichten konnten." Fortan bombardierten sie Abgeordnete mit ihren Vorschlägen. Nachdem die ersten Busladungen junger Europäer zum Röttinger Wohlstand beitrugen, fasste die Gruppe richtig Fuß in Röttingen. Vortragsprogramme, Lichtbildabende, Ausstellungen und der alljährliche "Europa-Ball" förderten die ortsansässige Gastronomie.

    Nicht nur mit tiefem Ernst, auch mit der internationalen Sprache der Pantomime setzte sich Düll für Europa ein. Er holte den heute weltbekannten Marcel Marceau für eine Vorstellung nach Röttingen, gegen lächerlich kleine Gage und freie Kost und Logis. "Ob der sich heute noch daran erinnert, dass er 1953 für ganze fünf Mark in Röttingen vor nur 50 Personen eine Vorstellung gab?"

    Die "Europastadt" schlug als machbare Idee in den Köpfen der Röttinger Europa-Truppe Wurzeln. Repplinger, der Bezirksvorsitzende des Bundes Europäischer Jugend, hellauf von der Idee begeistert, verständigte den Bundesvorsitzenden Heini Schneider, der ebenfalls sofort dabei war. Den Bürgermeister und den Stadtrat musste man gewinnen.

    Überzeugungsarbeit geleistet

    Erfolgreiche Überzeugungsarbeit leisteten Eugen und Ruth Hörmann. Woraufhin die Europastadt-Organisatoren viel zu tun hatten, um die Kundgebung mit hochkarätigen Rednern vorzubereiten und mit der Stadt zu koordinieren. Und eine Proklamationsurkunde - sie hat bis heute einen Ehrenplatz im Rathaus - brauchte man natürlich auch.

    Die Gruppe zerbrach sich den Kopf. Monatelang. Der Tag der Proklamation war längst festgelegt, das Pergament für die Urkunde erworben, der Künstler stand schon seit Wochen auf Abruf bereit. Nur die Worte fanden sich nicht. "Erst in allerletzter Minute", erinnert sich Düll, hatte er die zündende Idee. Schon am nächsten Tag konnte der Künstler mit der Gestaltung der Urkunde beginnen. Knapp ging es zu: Erst eine Stunde vor der festlichen Proklamation traf die Urkunde in Röttingen ein, die acht Unterschriften wurden gerade noch rechtzeitig auf dauerhaftem Pergamentgrund geleistet.

    Noch immer treibt Elmar Düll die Sorge um den Weltfrieden um: "Wir müssen den Teufelskreis von Gewalt und Rache durchbrechen, uns mit Vernunft und gegenseitiger Toleranz auf das gemeinsame Gute in allen Ländern der Welt konzentrieren." Es geht dem gebürtigen Röttinger, der heute in Kanada lebt, längst nicht mehr nur um Europa, wenn er sagt: "Wir haben keine Wahl: Wir müssen den Weg der Gemeinsamkeiten gehen und die Steine der Einzelinteressen aus dem Wege räumen." Dass er aus gesundheitlichen Gründen nicht zum Europajubiläum kommen kann, ärgert ihn.

    Heute leitet Hans Metzger den Röttinger Ortsverein der Europa-Union. Mitstreiter für die Idee Europa brachte die Europastadt immer wieder hervor, etwa Helmut Gura, Eugen Hörmann, Alfred Körner, Leopold Miksch, Wilhelm Schwarzmann und etliche andere.

    Am 1. Juni wird der schmucke Weinort im Taubertal mit einem feierlichen Festakt des 50-jährigen Europastadt-Jubiläums gedenken. Vom 6. bis 9. Juni steht das geschichtsträchtige Städtchen beim 3. Europäischen Weinfest ganz im Zeichen Europas. Und weil das auch genau der rechte Zeitpunkt ist, an die 25 Jahre zu erinnern, in denen das österreichische Bad Mitterndorf und das Europastädtchen Röttingen die Idee Europa mit Leben erfüllen, feiern die Stadt-Geschwister das Jubiläum der Städtepartnerschaft gleich mit. Gewiss sein kann man, dass auch beim Gauvolksfest vom 29. August bis zum 1. September, das seinerzeit den Rahmen zur Europastadt-Proklamation bot, Europa eine wesentliche Rolle spielen wird.

    Das Veranstaltungsprogramm und weitere Informationen sind über das Verkehrsamt 97285 Röttingen, Marktplatz 1, Tel. (0 93 38) 97 28 55, Fax (0 93 38) 97 28 85) und im Internet (www.roettingen.de) zu beziehen.

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