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OCHSENFURT: Drangsaliert, denunziert und deportiert

OCHSENFURT

Drangsaliert, denunziert und deportiert

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    Am 24. März 1942 verließ kurz vor 11 Uhr in Kitzingen ein Zug mit 208 überwiegend älteren Juden aus Mainfranken den Bahnhof und fuhr nach Nürnberg. Dort wurden um die Mittagszeit weitere knapp 800 mittelfränkische Juden in den Sonderzug verladen. Anschließend ging die mehrtägige Fahrt nach Polen mit Ziel im Raum Lublin.

    Vom Durchgangslager Izbica kam ein Teil der verschleppten Juden sofort in das Vernichtungslager Majdanek. Diejenigen, die in Izbica verblieben waren und dort überlebt hatten, wurden wenig später entweder im Vernichtungslager Sobibor umgebracht oder kamen bei einem der Todesmärsche auf der Flucht vor den anrückenden russischen Truppen um. Von den im März 1942 in den Osten deportierten mainfränkischen Juden stammten auch etliche aus dem Ochsenfurter Gau, nämlich zwei aus Acholshausen, zwei aus Allersheim, 25 aus Gaukönigshofen, fünf aus Giebelstadt, zwei aus Goßmannsdorf und einer aus Tauberrettersheim.

    Unter den Opfern nationalsozialistischer Vernichtungspolitik befand sich das jüdische Ehepaar Gisela und Seligmann (Sally) Lind, das zuletzt in Goßmannsdorf gewohnt hatte. Seligmann Lind wurde am 8. September 1889 in Bermutshain (Kreis Lauterbach) im Großherzogtum Hessen als Sohn des Kaufmanns Alexander Lind und seiner Ehefrau Sophie geb. Hess geboren. Nach dem Besuch der Volksschule seines Heimatortes erlernte er von 1903 bis 1906 bei Jakob Strauß in Bad Homburg v.d.H. den Beruf eines Kaufmanns. Im Anschluss an seine Berufsausbildung hatte Seligmann Lind mehrere Stellen im Kaufmannsgewerbe inne. Im Jahre 1915 trat er dann in das 87. Infanterieregiment in Mainz ein und nahm an mehreren Schlachten des 1. Weltkriegs teil. Wegen seiner Tapferkeit im Feld wurde ihm am 18. August 1918 das Allgemeine Ehrenzeichen mit Inschrift und Urkunde verliehen.

    Im Geschäft der Eltern

    Nach Kriegsende arbeitete Seligmann Lind ab 1918 im elterlichen Geschäft und führte es bis 1936. Wann und wie er seine spätere Ehefrau Gisela Adler kennenlernte, ist nicht bekannt. Gisela Adler kam am 14. Dezember 1892 als erstes Kind des jüdischen Viehhändlers David Adler und seiner Ehefrau Berta (geb. Hahn) in Goßmannsdorf zur Welt. Neben der Tochter Gisela hatte das Ehepaar Adler noch vier weitere Mädchen (Carry, Paula, Sophie und Fanny) und zwei Jungen (Wilhelm und Felix). Gisela und Seligmann Lind heirateten am 23. Oktober 1921 in Goßmannsdorf, nahmen aber ihren Wohnsitz in Bermutshain, wo auch die Kinder Ruth (geb. 31. Oktober 1922) und Martin (geb. 16. Mai 1925) zur Welt kamen.

    Vermutlich aufgrund geringer Umsätze infolge der nationalsozialistischen Ausgrenzungspolitik gegenüber Juden gab das Ehepaar Lind sein Geschäft in Bermutshain auf und siedelte mit seinen Kindern am 15. Mai 1936 nach Goßmannsdorf über, wo sie im Anwesen der Familie Adler (frühere Hausnummer 45, heute Zehnthofstr. 22) Aufnahme fanden. Dort wohnten zu dieser Zeit noch die Eltern von Gisela Lind und ihr Bruder Felix. Die anderen Geschwister hatten wegen Heirat oder aus beruflichen Gründen das Elternhaus bereits verlassen, so dass Wohnraum für die Neuankömmlinge vorhanden war. In Goßmannsdorf unterstützte Gisela Lind zusammen mit ihrem Ehemann die Eltern David Adler (gest. am 21. Juni 1937) und seine Frau Berta nach Kräften, lebten ansonsten wohl hauptsächlich von Ersparnissen, denn für Juden war damals ein Neuanfang im Handel so gut wie nicht mehr möglich.

    Visum beantragt

    Aufgrund der immer bedrängenderen Lage, die durch staatliche Gesetze und Verordnungen ab 1937 noch verschärft wurde, beantragte Seligmann Lind wie zahlreiche seiner Glaubensgenossen für sich und seine Angehörigen am 3. August 1938 beim amerikanischen Konsulat in Stuttgart ein Visum für die Vereinigten Staaten. Der Entschluss zur Auswanderung dürfte Ergebnis der zunehmenden Unsicherheit und des Gefühls des Unerwünschtseins im nationalsozialistischen Staat gewesen sein.

    Dass die Reichsregierung tatsächlich mit aller Macht die Juden aus Deutschland vertreiben wollte, sollte sich schon bald darauf erweisen. Denn in der Nacht vom 10. auf den 11. November 1938 fanden mit ausdrücklicher staatlicher Billigung auch im Landkreis Ochsenfurt schwere Ausschreitungen gegen Juden statt. Am Abend des 10. November 1938 versammelte sich in Ochsenfurt ein Kommando von etwa 30 Personen, darunter führende Parteimitgliedern der NSDAP sowie SA- und SS-Leuten aus der Mainstadt, und fuhr mit mehreren Personen- und Lastkraftwagen durch die Gemeinden des Kreisgebietes mit jüdischer Bevölkerung, wo sie Anschläge gegen israelitische Kultusgebäude und Wohnhäuser von Juden verübten.

    In Goßmannsdorf, der ersten Station, waren die Synagoge (Zehnthofstr. 29) und die Wohnhäuser der Familien Adler/Lind und Mayer (linke Bachgasse 9) Ziel von Anschlägen mit erheblichem Sachschaden. Seligmann Lind und Max Mayer (der Sohn von Jakob und Klara Mayer) wurden außerdem festgenommen und zusammen mit weiteren im Laufe der Nacht noch festgenommenen Juden ins Amtsgerichtsgefängnis in Ochsenfurt gebracht. Während Max Mayer am 21. November 1938 frei kam, wurde Seligmann Lind erst zwei Tage später aus der Haft entlassen, obwohl er wie sein Leidensgenosse bereits am 14. November wegen seiner bereits beantragten Auswanderung um Entlassung aus der Haft gebeten hatte.

    Scharfe Beobachtung

    Nach ihrer Rückkehr in das Dorf standen die beiden Freigelassenen und ihre Angehörigen unter scharfer Beobachtung der Polizei und der NSDAP. Aufgrund einer verleumderischen Anzeige bei der Gendarmerie verließ Martin Lind, der in Marktbreit zur Schule ging, aus Angst vor einer drohenden Verhaftung am 18. Januar 1939 Goßmannsdorf und zog zu seiner Tante Sophie Weimersheimer, die mit ihrem Mann Jakob in Ichenhausen (Landkreis Günzburg) in Schwaben wohnte. Ruth Lind folgte ihrem Bruder am 1. September 1940 nach Ichenhausen und arbeitete dort zeitweise als Schneiderin. Im Februar 1940 konnte Berta Adler, die Großmutter der beiden Letztgenannten, aufgrund einer Bürgschaft ihrer bereits ausgewanderten und in New York lebenden Kinder Carry, Paula und Willi Adler nach USA ausreisen, während ihre Tochter Gisela und deren Ehemann immer noch auf ihr Visum warteten. Nach einer Anzeige aus nationalsozialistischen Kreisen wegen seines „volksschädlichen Nichtstuns“ wurde Seligmann Lind im Frühjahr 1940 auf Anweisung der Geheimen Staatspolizei in Würzburg eine Arbeit in der Landwirtschaft oder im Handwerk zugewiesen.

    Hilfskraft beim Landwirt

    Ab März 1940 arbeitete er daraufhin bei Landwirt und Wagner Johann Schmer in Goßmannsdorf als landwirtschaftliche Hilfskraft. Im Mai 1940 teilte das amerikanische Konsulat Seligmann Lind mit, dass er demnächst bei der Auswanderung zum Zuge kommen könne, sofern noch Quotennummern für die Einreise zur Verfügung stünden und die Voraussetzungen zur Erteilung eines Visums vorlägen. Das Ehepaar Lind kümmerte sich daraufhin vorrangig um die Auswanderung ihrer beiden Kinder, welche dann im Sommer 1941 gerade noch rechtzeitig gelang. Für sie selbst kamen aber alle weiteren Bemühungen um eine rettende Flucht aus Deutschland zu spät, weil das Reichssicherheitshauptamt in Berlin am 23. Oktober 1941 ein Verbot für die Auswanderung von Juden für die restliche Dauer des Zweiten Weltkriegs erließ. Zur selben Zeit begann die Reichsregierung mit den Vorbereitungen zur Vernichtung der Juden im Osten Europas.

    Zur Person

    Der Verfasser, Joachim Braun, aus Würzburg ist gelernter Diplom-Theologe und arbeitet bei der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung in Aschaffenburg. Der heute 42-Jährige veröffentlichte 1988 im Auftrag der Stadt Ochsenfurt die Geschichte der ehemaligen jüdischen Gemeinde von Goßmannsdorf; Maßgeblich beteiligt war Braun an der Erstellung der Dorfchronik von Hopferstadt; Zur Zeit arbeitet er an der Geschichte des jüdischen Friedhofs in Allersheim.

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