Einem anderen wäre diese Besonderheit womöglich gar nicht aufgefallen. Paul Lorenz Kraus aber ist Vermesser von Beruf und war sich der Bedeutung des schönen Aussichtsplatzes über Winterhausen sofort bewusst. An der Stelle, wo er eigentlich eine Ruhebank für Wanderer aufstellen wollte, verläuft der 10. Längengrad. Deshalb entschied sich Kraus, gemeinsam mit dem Schreiner Eberhard Braungardt den Ort mit einem ganz besonderen Stein zu kennzeichnen.
Kraus ist Mitglied der Ortsgruppe Winterhausen-Sommerhausen des Bund Naturschutz (BN). Die Naturfreunde haben schon vor einiger Zeit oberhalb von Winterhausen einen rund acht Kilometer langen Wanderweg beschildert. Der so genannte Muschelkalkweg ist der große Bruder des auf der anderen Talseite verlaufenden Mondweges, der nur fünf Kilometer lang ist. In seiner Freizeit kümmert sich Kraus um die Ausgestaltung der Wanderwege. Getreu dem Motto „Muschelkalk“ haben Kraus und Braungardt aus großen Steinblöcken und Holzlatten schon rund 25 Ruhebänke an besonders schönen Plätzen errichtet.
Der 10. Längengrad aber sollte auffallen. Jetzt steht genau da, wo er verläuft, ein Muschelkalkblock, in dem ein langer Baumstamm steckt. Der Stamm weist die Verlaufsrichtung des Längengrades. Per GPS wurde der Standort genau vermessen. Auf dem Stein eingraviert sind einige Informationen zu diesem besonderen Platz. Zum Beispiel, dass sich die Städte Hamburg, Neu-Ulm und Cremona den 10. Längengrad mit Winterhausen teilen. Dass es 4483 Kilometer bis zum Nordpol sind und 15 550 Kilometer bis zum Südpol.
Die Steinblöcke „findet“ Paul Lorenz Kraus bei seinen Rundgängen in der Natur. Da sie nicht selten mehr als eine Tonne wiegen, werden die Dienste eines Baggerfahrers benötigt, um sie an ihren jeweiligen Bestimmungsort zu bringen. Dafür kommt die Gemeinde Winterhausen auf. Kraus graviert manchmal etwas ein, so wie die Informationen am Stein für den 10. Längengrad. An einer Mauer ein Stück weiter am Muschelkalkweg hat er einen kleinen Spruch von Novalis verewigt.
Die Holzlatten für die Sitzbänke sind übrigens Recyclingprodukte. Eberhard Braungardt, der „Holzwurm“, verwendet dafür ehemalige Weinbergsstickel. Fertig, sagt Paul Lorenz Kraus, werde so ein Wanderweg übrigens nie. Immer wieder entdecke er einen Platz, den er ausschmücken möchte. „Wir genießen die Natur hier und wollen sie auch anderen nutzbar machen“, ergänzt Schreiner Braungardt. Einen Nutzen aus dem Längengraddenkmal hat zumindest Kraus' Hund schon für sich entdeckt: Er balanciert gern auf dem langen Robinienstamm.
Die Hansestadt Hamburg wirbt sehr selbstbewusst mit ihrer geografischen Lage auf dem 10. Längengrad. Und was die Hamburger können, können die Winterhäuser auch. Die Erdkugel ist in insgesamt 360 Längengrade und 180 Breitengrade aufgeteilt. In Europa sind die Längengrade ungefähr 70 Kilometer voneinander entfernt. Dieser Wert variiert je nach Entfernung vom Äquator, denn alle Längengrade laufen an den Polen zusammen, so dass die Abstände mit zunehmender Nähe zu den Polen immer geringer werden.
Die italienische Stadt Cremona hat Kraus in seine Auflistung aufgenommen, weil er sich ihr noch durch etwas anderes als den 10. Längengrad verbunden fühlt. Es ist die Liebe zur Musik. Eine Reihe berühmter Geigenbauer waren in Cremona ansässig. „Ich spiele zwar nicht Geige, aber Gitarre“, sagt Kraus. Er hofft, dass bald noch mehr Naturfreunde den Muschelkalkweg mit seinen vielen Sitzgelegenheiten für sich entdecken. Anders als der Mondweg wird der Muschelkalkweg noch nicht mit einem Prospekt beworben. Kraus ist aber guter Dinge, dass sich das noch ändern wird.