Europas Gas-Autobahn hat eine Handvoll Knotenpunkte. Einer davon liegt auf einer Anhöhe über Rimpar bei Würzburg. Nur Spaziergänger nehmen Notiz von der Ansammlung silbern glänzender Rohre. Menschen sind auf dem weitläufigen Gelände nicht zu sehen. Nur der hohe Zaun und die Betreten-Verboten-Schilder signalisieren: Hier handelt es sich um eine Hochsicherheitszone.
Die Verdichterstation des Ferngasnetzbetreibers Open Grid Europe ist einer der wichtigsten Knotenpunkte im deutschen und europäischen Gas-Netz. Hier kreuzen sich eine ganze Reihe von Pipelines, darunter die wichtige MEGAL-Leitung, die Mittel-Europäische-Gasleitung. Sie befördert Gas aus Sibirien nach Westeuropa. Von Rimpar aus wird es in alle Richtungen weiter verteilt. Und das seit wenigen Wochen sogar mit doppelter Kapazität: In den vergangenen Monaten wurde zusätzlich zur bestehenden Pipeline eine weitere gebaut, 67 Kilometer lang bis ins hessische Sannerz – eine Millioneninvestition.
„Wir haben einen Bedarf für Lieferungen von Nord nach Süd gesehen“, erklärt Jörn Albrecht, der Chef der Rimparer Anlage. Denn im Erdgasfernnetz geht es, wenn nötig, auch anders herum. Über die Schaltzentrale der Station lässt sich das Gas in jede beliebige Richtung leiten. Das ist wichtig für eine sichere Versorgung. Es gehe darum, sagt Albrecht, „Alternativen zu haben“. Etwa für Zeiten wie im Februar dieses Jahres, als wegen der extremen Kälte in Sibirien die Gaslieferungen kurzzeitig reduziert wurden. Oder wie im Januar 2006, als Russland wegen eines Streits mit der benachbarten Ukraine zeitweise den Hahn sogar ganz abdrehte.
Noch erhält Deutschland etwa ein Drittel seinen Gases aus Russland. Und mit mit der North-Stream-Pipeline in der Ostsee, die seit Jahresanfang in Betrieb ist, wurde diese Abhängigkeit noch zementiert. Doch zuletzt wurden die erfolgsverwöhnten Manager in Moskau nervöser – denn der weltweite Gasmarkt steht vor einer Revolution. Zwei Stichworte stehen dafür: Fracking und LNG.
Das erste bezeichnet ein Verfahren, mit dem Gas aus bislang verschlossenen Gesteinsschichten (vor allem Schiefer, daher auch der Begriff Schiefergas) unter hohem Druck herausgepresst wird. Vor allem die USA erleben derzeit einen wahren Fracking-Boom: Tausende von Förderanlagen decken bereits ein Drittel des Gasbedarfs der weltgrößten Wirtschaftsnation – und das zu niedrigeren Kosten. Während also bei uns die Preise kontinuierlich steigen, wurde Gas in den USA plötzlich billiger und kostet umgerechnet auf den Energieinhalt nur noch ein Viertel so viel wie Öl. Das freut die Verbraucher – und verschaffte der US-Industrie über Nacht einen Wettbewerbsvorteil.
In Deutschland hingegen gibt es nur ein paar kleine Fracking-Versuchsbohrungen im Norden. Und viel Widerstand in der Bevölkerung. Denn die bei dem Verfahren benutzten Chemikalien sollen zum Teil giftig sein und das Grundwasser verseuchen. Daher kann es sein, dass Europa demnächst Fracking-Gas aus den USA importieren wird – bis vor kurzem noch unvorstellbar. Möglich macht diese Entwicklung der zweite Teil der Gas-Revolution: Liquefied Natural Gas, kurz LNG.
Hammerfest in Nordnorwegen. Zweimal am Tag passieren Schiffe der legendären Hurtigrute bei der Ausfahrt aus dem Hafen die Insel Melk?ya. Hier steht seit wenigen Jahren Europas größtes LNG-Terminal. Es könnte in Zukunft für Europas Gas-Verbraucher eine wichtige Rolle spielen. Die gigantische, vom deutschen Linde-Konzern gebaute Anlage verflüssigt Erdgas aus dem hohen Norden und komprimiert es so auf ein Sechshundertstel seines Volumen. Spezielle Tanker bringen das LNG dann zum Kunden. Gas ist zum weltweit handelbaren Gut geworden.
Das Problem: Noch gibt es kein LNG-Terminal in Deutschland, der das verflüssigte Gas wieder zurück in Erdgas verwandelt, welches sich ins Pipeline-Netz einspeisen lässt. Die Niederlande sind weiter. Im Rotterdamer Hafen hat im vergangenen Jahr das erste LNG-Schiff angelegt. An Bord genug Gas, um 40 000 Haushalte ein Jahr lang zu versorgen.
Gas, von dem womöglich auch Thorsten Tippmann einen Teil gekauft hat. Der Chefeinkäufer der Würzburger Versorgungs- und Verkehrs GmbH (WVV) ordert jährlich etwa drei Terawattstunden Gas, in etwa so viel, wie auf vier LNG-Tanker passt. Doch Tippmann weiß meist gar nicht, woher das Gas stammt, das seine Mitarbeiter und er einkaufen. „Das interessiert uns auch nicht.“ Wichtig seien für ihn vor allem Preissicherheit – und die Zuverlässigkeit des Lieferanten. Denn Gas wird überwiegend langfristig gehandelt. Tippmann verhandelt in diesen Tagen über Lieferungen für den Winter 2014/15. Die kalte Jahreszeit ist Hochsaison: 70 bis 80 Prozent wird im Winterhalbjahr verbraucht.
Im Handelsraum, dem „Tradingfloor“, der WVV. Auf großen Monitoren laufen alle wichtigen Informationen zusammen. Das ist notwendig, denn der Gaspreis ändert sich ständig. Längst existiert auch eine Börse, sie ist bei der Strombörse in Leipzig angesiedelt. Früher gab es das nicht, da war der Gaspreis nach einer ehernen Branchenregel im Abstand von einem halben Jahr an den Rohölpreis gekoppelt. Doch damit scheint es vorbei. „Kommt mir bloß nicht mit dem Ölpreis“, sagt Tippmann heute bei Verhandlungen, wenn ein Lieferant mal wieder den künftigen Gaspreis an den aktuellen Ölpreis anlehnen will.
Wird Gas nun dank Fracking, LNG und der sich auflösenden Ölpreisbindung billiger? Wenn es nach Branchenkennern wie Holger Krawinkel geht, dann ja. Der Energieexperte vom Bundesverband der Verbraucherzentralen rechnet künftig mit einem steigenden Angebot an Erdgas, „was sich auch in Europa preisdämpfend, wenn nicht sogar preissenkend auswirken dürfte“.
In Russland hört man solche Prognosen gar nicht gern. Lange galt in Moskau das in Sibirien traditionell geförderte Gas als zuverlässige Einnahmequelle. Und, wenn auch nie offen eingeräumt, als politisches Druckmittel gegenüber den Kunden im Westen. Doch ganz so hoch, wie man bei uns immer glaubt, ist die Abhängigkeit vom russischen Gas ja gar nicht mehr. Zudem lagert in deutschen Speichern genug Gas, um das Land etwa 90 Tage zu versorgen.
Und es gibt noch einen Grund, warum Experten von einem anbrechenden „Gas-Zeitalter“ sprechen – der Boom der Gas-Kraftwerke. Bis 2015 sollen in Europa 150 davon gebaut werden. Nur in Deutschland haben die Energiekonzerne Investitionen in Gas-Kraftwerke zur Stromproduktion auf Eis gelegt. Grund: Steigende Gaspreise und die hohe Förderung von erneuerbarer Energie würden den Bau unrentabel machen.
Jörn Albrecht sieht das gelassen. Der Chef der Verdichterstation in Rimpar hält sein Pipelinenetz für alle Entwicklungen gut gerüstet, aber, „wir sind ja nur der Transporteur“. Bleibt nun noch die Frage, wie denn das Gas eigentlich zu uns ins Haus kommt.
Alles eine Sache des Drucks, erklärt Albrecht. Durch die Pipelines mit einem Durchmesser von exakt 100 Zentimetern strömen im Vollbetrieb maximal vier Millionen Kubikmeter Gas – in der Stunde. Möglich wird das mit einem Druck von bis zu 80 bar – das ist etwa 35-mal so hoch wie in einem Autoreifen. Über regionale Verteilernetze gelangt das Gas in die Ortsnetze und schließlich zum Endverbraucher. Hier schmilzt der Druck auf 22 Millibar, „das ist nur noch ein Hauch“. Doch der reicht, um es zu Hause warm zu haben.
Wie LNG funktioniert
Nicht verwechseln darf man verflüssigtes Erdgas (das Kürzel LNG steht für Liquefied Natural Gas) mit dem bekannten Flüssiggas, wie es etwa bei Feuerzeugen oder Campingkochern verwendet wird. LNG entsteht durch Abkühlung von Erdgas auf minus 161 Grad. Es hat dann nur noch ein 600-stel des ursprünglichen Volumens in Gasform. Damit lässt sich LNG hervorragend in großen Mengen transportieren – und das unabhängig von teuren, stationär verlegten Pipelines. Nötig sind neben speziellen LNG-Tankschiffen mit den ballonförmigen Aufbauten allerdings auch gigantische LNG-Terminals, in denen das von der Förderstätte angelieferte Erdgas verflüssigt beziehungsweise wieder in Gasform gebracht wird. Für Westeuropa existiert erst seit vergangenem Jahr ein Terminal im Rotterdamer Hafen, um LNG ins bestehende Ferngasnetz einzuspeisen. Text: md
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