Wir schreiben das Jahr 1744: Der Rohbau der Würzburger Residenz ist gerade fertiggestellt. Bereits drei Jahre vorher, 1741, kaufte der Weinhändler Andreas Wiesen im Würzburger Vorort Zell vom Kloster Oberzell ein Grundstück. Das Kloster braucht Geld für die Barockisierung seiner Anlage und der Weinhändler will sich am Mainufer ein Wohn- und Geschäftshaus bauen. Doch es gibt ein Problem: Im Kaufvertrag haben die Kloster-Oberen den Verkauf des vor dem Grundstück liegenden Schwemmlands am Main ausdrücklich ausgeschlossen.
Genau dieses will aber der Weinhändler erwerben, um einen Hafen anzulegen, von dem aus er seinen Wein nach Frankfurt transportieren kann. Es kommt zu einer Auseinandersetzung zwischen den beiden Parteien. Dabei ist ein Mann besonders gefragt: Balthasar Neumann, der im benachbarten Würzburg gerade mit dem Bau der fürstbischöflichen Residenz beschäftigt ist.
Dass Neumann Kontakte nach Zell hat, ist kein Zufall. Hier sind mehrere Ziegeleibetriebe angesiedelt und Backsteine braucht Neumann für seinen Prunkbau jede Menge. Die Zeller Ziegelproduzenten waren seit Baubeginn im Jahr 1719 die Hauptlieferanten für Ziegel, Backsteine und gebrannten Kalk für die Residenz-Baustelle.
Aber in Zell gab es damals noch ein zweites boomendes Gewerbe: den Weinhandel. Die Zeller Weinhändler agierten aufgrund ihres Geschäftssinns und einer geschickten Heiratspolitik sehr erfolgreich. Sie waren direkt oder indirekt mit den übrigen führenden fränkischen Weinhändlern verwandt und kontrollierten mit ihnen den Frankfurter Weinmarkt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Und ein reicher Geschäftsmann brauchte natürlich auch einen repräsentativen Wohnsitz, der am besten von einem – wie man heute sagen würde – Stararchitekten geplant wurde.
Genau dieses hatte der Weinhändler Andreas Wiesen im Sinn und ließ sich ein prunkvolles Wohn– und Geschäftshaus errichten. Heute sieht man dem Gebäude in der Zeller Hauptstraße 18 auf den ersten Blick nicht mehr an, dass es Mitte des 18. Jahrhunderts ein regelrechtes Schloss mit einem prächtigen Park war. Doch dank der Nachforschungen des in Zell wohnenden Historikers Christian Naser, deren Ergebnisse er 2013 in seinem Buch „Das vergessene Schloss“ veröffentlicht hat, weiß man heute sehr genau, wie das Haus zu seiner Blütezeit aussah.
Die ursprünglich dreiflügelige Anlage gruppiert sich um einen kleinen Ehrenhof, der sich zur Hauptstraße hin öffnet. An der rückwärtigen Ostfassade lag ein großer Barockgarten mit einer zentralen Brunnenanlage und Figurenschmuck, der sich bis zum Main hin erstreckte. Der Garten des Weinhändlerpalais und sein Skulpturenschmuck ging beim Bau der Umgehungsstraße 1968 zu großen Teilen verloren.
Das Besondere an dem Gebäude war, dass es drei Funktionen auf einmal erfüllte: Weinproduktion im Keller, Handel mit den dazugehörigen Funktionsräumen (Büros, Empfangsräume für Kunden und Festsälen) sowie als Wohnhaus des Eigentümers im ersten Dachgeschoss. Im zweiten befanden sich wahrscheinlich Lagerräume. Aus architektonischer Sicht ist zudem erstaunlich, dass das Gebäude in den zwei Kellergeschossen quasi noch einmal gespiegelt ist – was dafür spricht, dass hier ein außergewöhnlicher Architekt am Werk war. Denn die Keller gruppieren sich als Dreiflügelanlage um einen Zentralkeller wie das darüber stehende Gebäude um den Ehrenhof.
Während das Hauptgebäude im Laufe der Zeit stark verändert worden ist, sind die Gewölbekeller von Eingriffen weitgehend verschont geblieben, wie sich bei Christian Nasers Führungen erleben lässt. Außerdem ist außergewöhnlich, so Historiker Naser, dass alle Gebäudeteile über den Ehrenhof und eine begehbare Arkadenkonstruktion optimal miteinander vernetzt waren.
Allzu lange währte allerdings die Freude des Weinhändlers Wiesen an seinem mondänen Schloss nicht. Ab den 1770er-Jahren geriet er zunehmend in wirtschaftliche Schwierigkeiten, hat Naser in Würzburger Archiven recherchiert. Wiesen musste Grundbesitz verkaufen. So gelangten Schloss und Garten an das Kloster Ebrach, das es seinerseits 1786 weiter verkaufte. Der neue Eigentümer richtete in dem Gebäude eine Gerberei ein. So nahm eine bewegte Geschichte ihren Lauf. 1791, nach einem weiteren Verkauf, entstand eine Lederfabrik.
1809 erwarb der Zeller Weinhändler Kilian Lauck das Schloss und gründete dort 1815 das „Brauhaus Zell am Main“, nachdem der Weinbau in eine große wirtschaftliche Krise geraten war. Dies war die Geburtsstunde des „Würzburger Bürgerbräu“. Christian Naser schreibt hierzu: „Um den Brauereibetrieb aufnehmen zu können, musste das Weinhändlerhaus erheblich umgebaut und erweitert werden. Die ursprünglich frei stehende Dreiflügelanlage wurde stark verbaut und in die Häuserflucht eingebunden. Gleichzeitig wurden Richtung Main und in Richtung Kloster Oberzell mächtige Flügel angebaut. Damit ist die vormals freie Sichtachse zum Kloster verbaut und die ursprüngliche Baukonzeption unkenntlich gemacht worden.“
In späteren Jahren wurde das Gebäude dann auch noch als Lackfabrik, Klaviermanufaktur sowie als Gaststätte genutzt. Heute befindet sich das Schloss in Privatbesitz und wird als Wohnraum vermietet.
Da es aus Balthasar Neumanns Büro keine Pläne für das Zeller Schloss gibt, stellt sich die Frage, warum er als dessen Planer in Frage kommt.
„Um den Brauereibetrieb aufnehmen zu können, musste das Weinhändlerhaus erheblich umgebaut und erweitert werden.“
Christian Naser Historiker
Dafür gibt es, so Christian Naser, hierfür zahlreiche archivalische Hinweise. Neumann kannte sich außerdem gut in Zell aus. Ab 1741 arbeitete er für Kloster Oberzell, war als Straßenbauer für den Zeller Bock zuständig, kannte die Zeller Ziegler, fungierte schließlich auch als Streitschlichter zwischen Wiesen und dem Kloster und war persönlich als Vermesser des Grundstücks tätig.
Zudem hat Naser zahlreiche bauliche Parallelen zwischen dem Zeller Schloss und anderen Neumann-Bauten entdeckt. So finden sich in der Fassadengliederung und im Grundriss auffallende Ähnlichkeiten zum geplanten Jagdschloss Mädelhofen. Bei der Toranlage gibt es Parallelen zum Kaufhaus am Markt in Würzburg und die Fenstergestaltung und vor allem die Verwendung der Mezzaninfenster erinnert an die Würzburger Residenz. Selbst die Fensterkörbe im Erdgeschoss des Schlosses weisen, so Naser, in Aufbau und vielen Details große Ähnlichkeiten mit denen des Oegg-Wohnhauses in der Würzburger Kapuzinerstraße 3 auf – einem Neumann-Bau von 1746. Hinzu komme, dass das Zeller Schloss auf Quellen errichtet wurde, wozu es eines Spezialisten für Straßen- und Wasserbau bedurfte – der Neumann gewesen ist. In seinem Buch führt Naser noch weitere Details an, die es wohl als gesichert erscheinen lassen, dass Balthasar Neumann der Architekt des Zeller Schlosses gewesen ist.
Trotz der großen Verbauungen und Verluste kann man heute noch die hohe Qualität des Gebäudes erkennen. Aber der Blick auf die durchkomponierte, doch nunmehr zerbröckelnde Westfassade des Schlosses und der anschließende Gang durch Zell stimmen nachdenklich. Auf der Suche nach den übrigen von Naser beschriebenen Weinhändlerhäusern kommt man an schön renovierten wie auch leer stehenden zerfallenden Gebäuden vorbei.
Doch das ist wieder eine andere Geschichte.
Balthasar Neumanns Weinhändlerpalais in Zell
Der Autor: Dr. Christian Naser studierte an der Uni Würzburg Germanistik und Latein und promovierte 1993 mit einer mediävistischen Arbeit zum Thema: „Der geistliche Streit. Synoptischer Abdruck der Fassungen A, C, B und D. Kommentar und Motivgeschichte“. Seit 1987 arbeitet er am Würzburger Institut für deutsche Philologie. Ein besonderes Anliegen ist ihm der Denkmalschutz. Der von ihm und weiteren Mitstreitern ins Leben gerufene Zeller Arbeitskreis WAG (Wasser – Architektur – Geschichte) resultiert aus diesem Engagement. Seine Forschungsschwerpunkte bilden – in der Verbindung von baugeschichtlicher Stilkunde und Archivarbeit – die Romanik und das 18. Jahrhundert. Das Buch: Im Würzburger Verlag Königshausen & Neumann erschienen ist das Buch „Das vergessene Schloss – Balthasar Neumanns Weinhändlerpalais in Zell“. Darin beschäftigt sich Autor Christian Naser mit der Entstehungs- und Baugeschichte des Palais, das der Zeller Weinhändler Andreas Wiesen 1744 errichten ließ. Anhand zahlreicher Details wird erklärt, warum das Gebäude von Balthasar Neumann geplant worden sein muss. Außerdem erzählt der Autor die Geschichte der Zeller Weinhändler im allgemeinen. Diese kontrollierten mit anderen fränkischen Händlern, mit denen sie direkt oder indirekt verwandt waren, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Zell aus den Frankfurter Weinmarkt.
Das vergessene Schloss. Balthasar Neumanns Weinhändlerpalais in Zell, 200 Seiten, zahlreiche Farbabbildungen, 19,80 Euro, ISBN: 978-3-8260-5297-2