Die Visitenkarte von Wolfgang Thaler, dem Bauleiter von der Autobahndirektion Nordbayern hängt an der Küchentür, gleich neben einem Hochzeitsfoto. Gebraucht hat Peter Wolz die Kontaktdaten des Bauleiters noch nie. „Das stört mich gar nicht“, sagt er. Was Wolz so beiläufig „das“ nennt, ist die 72 Millionen-Euro-Mammutbaustelle der neuen A 3-Brücke bei Heidingsfeld. Sein Haus – ein liebevoll saniertes, etwa 100 Jahre altes Bahnwärterhäuschen – steht nur einen Steinwurf von den mächtigen Pfeilern entfernt, die im Laufe des vergangenen Jahres Tag für Tag gewachsen sind.
Worunter andere furchtbar leiden würden, ist für Wolz einfach kein Thema. „Die Brücke war schon da, als ich das Haus gekauft habe.“ Und dass sie nun ausgebaut werden müsse, weil die Welt immer mobiler werde, sei doch logisch: „Ich mag es ja auch, wenn es auf der Straße läuft und ich nicht im Stau stehe.“ Ein Großteil seines entspannten Pragmatismus' fußt wohl darauf, dass Wolz selbst Handwerker ist. Seit 20 Jahren hat der 49-Jährige eine eigene Bautenschutz-Firma.
„Verdammt, die haben heute ja schon wieder gut drei Meter geschafft!“, ruft er. Wolz steht im Garten, die Arme über der breiten Brust verschränkt, und taxiert den fast fertigen 50 Meter hohen Pfeiler. Wie ein bizarres Monstrum ragt er zwischen dem Bahnwärterhäuschen und dem ausladenden alten Apfelbaum empor. „Verdammt, die sind wirklich schnell, Respekt“, murmelt er.
Inmitten seiner kleinen grünen Oase – ausgestattet mit einer schattigen Sitzecke, einem Strandkorb, Hühnerstall und kleinem Brunnen – ist an diesem Nachmittag nur das leise gleichmäßige Rauschen des Autobahnverkehrs hören. „Tja“, sagt Wolz und grinst. „Wir sind halt zu dicht an der Brücke.“ Der Verkehrslärm, der über sein Grundstück hinweg wabert , kommt bei den weiter entfernten Brücken-Anwohnern ungleich lauter an.
„Vom Baulärm bekommen wir gar nichts mit“, sagt Wolz. „Wenn ich von der Arbeit komme, sind die Arbeiter schon im Feierabend. Und donnerstagnachmittags fahren sie dann ab ins Wochenende. Dann ist hier alles ruhig.“ Das Rauschen wird plötzlich heftiger, hält eine Weile an und verhallt. „Die Güterzüge, die machen hier den meisten Lärm.“. Aber schlimm findet Wolz sie auch nicht, es seien täglich ja nur eine Handvoll, die hier entlang führen. Die Bürgerinitiative der Tunnelbefürworter hätte auch mal bei ihm angeklopft und gefragt, ob er nicht „mit ins Boot wolle“. Seine Antwort: „Danke, aber ich brauche kein Boot.“
Der stämmige Mann mit den kurzen, blonden Locken und den kräftigen Armen liebt das Alte, das Echte, das Bodenständige, die Natur, das Leben und natürlich sein Häuschen. Bei jeder Gelegenheit, die sich bietet, stellt Wolz klar: Niemals, unter keinen Umständen und freiwillig schon gar nicht, werde er das Haus, sein Haus wieder hergeben. Ganz gleich, wer ihm noch alles wie viel Geld dafür bieten werde.
Dass der gebürtige Marktheidenfelder sein Traumhaus überhaupt fand, war purer Zufall. „Manchmal musst du eben zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein“, bringt es Wolz entspannt pragmatisch auf den Punkt. So spricht nur einer, der angekommen ist. Nach seiner Scheidung war er nach Würzburg gezogen. Einer seiner Kunden fuhr 2002 mit ihm zu einem Haus, das unterhalb der Heidingsfelder Autobahnbrücke lag, und das Wolz wieder herrichten sollte.
Auf dem Rückweg kamen sie an dem alten Bahnwärterhäuschen vorbei. Für Wolz Liebe auf den ersten Blick. „Das muss ich haben!“, war sein erster Gedanke. Der Kunde erklärte ihn für verrückt, weil er aber die Eigentümer kannte, gab er Wolz' Bitten nach und stellte den Kontakt her.
Auch das ältere Eigentümer-Ehepaar wundert sich über Wolz' Begeisterung: Seit 1970 war das Haus quasi unbewohnt, wurde nur noch ab und an als Wochenendhäuschen mit angegliedertem Gemüsegarten genutzt. Es gab keinen Wasser-, keinen Kanalanschluss, der Großteil des Grundstücks war verwildert. Trotzdem: Die Eigentümer versprachen Wolz, ihn anzurufen, wenn sie zum Verkauf bereit wären. Im März 2004 kam der Anruf – zwei Monate später saß man beim Notar, an Heiligabend zog Wolz in sein Bahnwärterhäuschen.
In nur acht Monaten hatte es Wolz mit Hilfe vieler Freunde und Verwandter geschafft, das Haus zu entkernen, zu sanieren und zunächst einmal Küche, Wohn- und Schlafzimmer bewohnbar zu machen. Den Rest brachte er nach und nach auf Vordermann – immer unter der Maxime, möglichst viel der alten Substanz und Bauelemente im Originalzustand zu bewahren. „Ich war wirklich erstaunt, wie viel vom Haus noch Top in Schuss war: der Boden, der Putz, das Dach – die haben ihr Handwerk damals wirklich verstanden“, sagt Wolz. Er streicht mit der Hand über den Lack der alten Türen, die immer noch exakt schließen.
„Die habe ich nur gereinigt“, sagt er. „Da lackiere ich nicht drüber. Ich bin doch nicht verrückt! Die sind pinsellackiert mit Leinöl-Lack, so was kriegt doch heute keiner mehr hin.“ Das perfekt Unperfekte der alten Handwerkerkunst, wie die Spuren des Malerpinsels oder jene Macken, die das Alltagsleben vergangener Tage im Haus hinterließ, wie die ausgetretenen Treppenstufen – diese Details sind es, die Wolz an seinem Haus so liebt: „Das verleiht ihm seine Seele. Und die will ich keinesfalls verändern.“
Die Autobahn? Ja, die gehört eben auch irgendwie dazu – und auch wieder nicht. „Wenn ich den Weg hoch zum Haus fahre, dann geht hinter mir ein grüner Vorhang zu. Dann bleibt der Rest der Welt draußen.“ Wolz läuft den Weg vor seinem Haus ein paar Meter bergauf – und steht am Rand der riesigen Baustelle mit ihren hellen, staubigen Wegen und Flächen, den weißen Containern, in denen die Baustellen-Chefs ihre Büros haben und dem vielen grauen Beton.
Wie zum Beweis läuft er den Weg ein Stück zurück nach unten. Wolz stoppt nach etwa 15 Metern: ringsum eingeschlossen von dichtem Grün, beschattet von einem riesigen Nussbaum, den er in letzter Minute vor den Kettensägen der Arbeiter retten konnte. Mit klaren Worte – von Handwerker zu Handwerker – redete er ihnen damals ihr Vorhaben aus. Von der Baustelle ist an dieser Stelle rein gar nichts zu sehen. „Ist eben alles eine Frage der Perspektive“, sagt er.
Es klingt nicht danach, dass er die Visitenkarte von Bauleiter Thaler jemals brauchen wird. Aber bis 2019, bis zur geplanten Voll-endung der riesigen Talbrücke, ist es lange hin – auch da ist Wolz ganz pragmatisch.