Am liebsten fährt der Würzburger Philosophieprofessor Dag Nikolaus Hasse mit dem Fahrrad zur Arbeit. Dabei kann er seine Gedanken sortieren, sagt er. Gedanken zum Weltbild mittelalterlicher arabischer Philosophen, Gedanken zu Aristoteles und Platon, zur europäischen Renaissance und zu Pegida.
All die Gedanken braucht er, um Fragen zu beantworten, die ihn nunmehr seit über 20 Jahren nicht loslassen: Wie groß war der Einfluss des Orients auf die europäische Geschichte und was hat dieser Einfluss mit dem heutigen Europa zu tun? Für die Arbeit an diesen Fragen bekommt Dag Nikolaus Hasse am Dienstag in Berlin den renommierten Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis. Dieser gilt als deutscher Nobelpreis.
Umberto Eco war schuld
Hasses Karriere begann jedoch mit einer Enttäuschung. „Als ich vom Wehrdienst kam, dachte ich, jetzt komme ich endlich an den Olymp einer Universität.“ Platon und Aristoteles habe er erforschen wollen. Was er damals aber feststellen musste: das haben vor ihm schon viele andere getan. Außerdem sei der Unterricht sehr verschult gewesen.
Ausgerechnet der Achtzigerjahre-Bestseller „Der Name der Rose“ des erst kürzlich verstorbenen Umberto Eco weckte in Hasse die Lust auf ein „frisches, unbearbeitetes Feld“, wie er sagt. „In dem Buch wurde es eigentlich immer dann spannend, wenn in der Bibliothek die arabischen Ecken auftauchen.“ Umberto Eco war Mittelalterforscher. „Der wusste genau, wovon er schreibt“, sagt Hasse. „Diese Autoren, die er beschreibt, gibt es wirklich.“
Also hat Hasse im dritten Semester begonnen, Arabisch zu studieren. Das gab ihm die Möglichkeit, weiter über Aristoteles und Platon forschen zu können, aber gleichzeitig „in Handschriften reinzuschauen, in die noch niemand reingeschaut hat“. Ein begeistertes Lächeln huscht bei diesem Satz über das Gesicht des Philosophen.
Hasse liest mit syrischen Flüchtlingen
Wenn der 46-Jährige spricht, scheint er jedes Wort abzuwägen, lässt einzelne Sinneinheiten in der Stille langer Sprechpausen wirken, um gelegentlich zurückzurudern und einzelne Worte durch treffendere zu ersetzen. Er spricht akkurat wie es Sprachliebhaber tun. Und ein solcher ist er ohne Frage. „Jede Sprache hat ihre eigene Ästhetik. Man erschließt sich eine neue Welt, wenn man eine neue Sprache lernt“, sagt er und liefert so einen Grund für seine Begeisterung fürs Arabische.
Gelegentlich trifft er sich mit syrischen Flüchtlingen. „Gerade erst vor ein paar Tagen hier.“ Er zeigt auf drei bunte Sessel in einer Ecke seines Büros. „Dann lese ich gemeinsam mit ihnen etwas Arabisches, um ihnen zu zeigen, dass hier jemand ihre Sprache liebt.“
Das sei jedoch ungefähr so, als würde uns jemand Schillerdeutsch vorlesen. „Aber es ist großartig zu sehen, wie glücklich sie sind. Ich wäre auch glücklich, wenn ich als deutscher Immigrant in ein Land komme und feststelle, dass es dort Liebhaber des Deutschen gibt.“
Das Sofa kommt aus dem Orient
Hasses Vorliebe gilt den zentralen arabischen Philosophen des Mittelalters: Averroes, Avicenna, Rhazes. Trotz der scheinbar altertümlichen Texte ist sein Thema in vielerlei Hinsicht aktueller denn je – und vor allem politischer. In Zeiten, in denen nicht wenige Deutsche mit Vehemenz vor einer Islamisierung des Abendlandes warnen, hält es Hasse für wichtig zu wissen, wie viel Orient und Okzident tatsächlich gemeinsam haben.
Nicht nur Lehnwörter wie Sofa, Matratze oder Tasse zeugen noch heute vom arabischen Einfluss. Die Algebra, die vielen Sternnamen, die Idee der Apotheke. All das habe einen orientalischen Ursprung. „Auch die Religionen Judentum, Christentum und Islam stammen aus dem Nahen Osten.“
Daneben seien Wissenschaften und Philosophie in dem „sehr durchlässigen Wissensraum“ um das östliche Mittelmeer herum übersetzt und damit transportiert worden. „Der Orient ist Teil der Vergangenheit jedes Deutschen“, sagt Hasse. Und die eigene Vergangenheit mache uns heute schließlich auch aus.
Immer mehr "intellektuelle Pegida"
In einem Gastbeitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ schreibt Hasse 2008: „Die Formel, Europa sei die Verbindung aus griechischer Vernunft und Christentum, ist eine Verkürzung.“ Seitdem sieht er auch in seinem Forschungsgebiet immer mehr ideologische Verzerrung. „Es gibt zum Beispiel viele pseudowissenschaftliche Mohammed-Biografien am rechten Rand.“ Diese seien zwar zu einem großen Teil korrekt recherchiert, sagt er. „Aber zu 25 Prozent ist es sozusagen intellektuelle Pegida.“
Hasse ist ein politischer Mensch und verfolgt so auch in der Freizeit aktuelle Diskussionen als Philosoph: „Ich sehe es als Teil meines Berufes als Geisteswissenschaftler, auf die Gegenwart zu blicken.“ Er versucht aber auch, Arbeit und Privatleben nicht zu sehr zu vermischen, auch wenn die Gedanken natürlich weitergehen, wie Hasse sagt. „Mein Vater war auch Wissenschaftler und hat das geschafft.“
Die Weltgeschichte in Würzburg
Seit 2005 lebt der zweifache Vater mit seiner Familie in Würzburg, stammt aber aus Schleswig-Holstein. „Ich fühle mich hier sehr wohl, und meine Kinder sind auch Würzburger geworden.“ Hasse nennt Würzburg eine „normale deutsche Stadt“.
Was zunächst etwas despektierlich klingt, ist aus dem Mund des Historikers durchaus als Lob zu verstehen: „Die Stadt hat eine enorme geschichtliche Tiefe, die eben typisch ist für eine zentraleuropäische Stadt.“ An der Wand in seinem Büro hängt eine Reproduktion eines Bildes, das Napoleon im Garten der Residenz zeigt. „Ich finde es so bemerkenswert, dass die Weltgeschichte hier in Würzburg ihre Spuren hinterlässt.“
Hasses Büro ist ein länglicher Raum im Südflügel der Residenz, zwei Bücherregale, die eine Leiter erfordern, füllen die Längsseiten. Parallel zu diesen steht ein Schreibtisch: Computer, Ablage, hölzerner Buchständer. Der hohe Fensterbogen am Kopfende unterstreicht, in welch geschichtsträchtigem Gemäuer sich das Institut für Philosophie befindet.
Vier Disziplinen für ein Forschungsgebiet
Obwohl Hasse Professor der Philosophie ist, lässt sich seine Forschung darauf nicht beschränken. Denn in eine spezielle Schublade passt sein Thema nicht. „Eine Erforschung der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte von den Griechen zu den Arabern und Juden und dann zu den christlichen Europäern“, so beschreibt Hasse selbst in akkurater Manier sein Fachgebiet, das gleich vier der klassischen wissenschaftlichen Disziplinen abdeckt: Arabistik, Latinistik, Philosophie und natürlich Geschichte.
„Das war für meine Karriere sogar relativ gefährlich“, sagt er. „Einigen war ich zu arabistisch, anderen zu latinistisch und wieder anderen zu philosophisch.“ Er studierte in Göttingen und Yale und promovierte in London. Arbeitslos war er nie, aber rückblickend bezeichnet er es als „Wagnis“, sich nicht mit einem klassischen Kernthema zu befassen.
Der Detektiv der Philosophie
Es ist ihm aber geglückt: Die Deutsche Forschungsgesellschaft, die den Leibniz-Preis vergibt, schreibt ihm in seinen „originellen und höchst anerkannten Forschungen“ eine „detektivische Beobachtungsgabe“ zu.
Darauf angesprochen, lächelt Hasse, hält inne, beugt sich nach vorn und beginnt zu erklären: „Das betrifft ein Thema meiner Forschung, dem ich ein besonderes Glücksgefühl verdanke.“ 2007 habe er plötzlich festgestellt, wie sich ein altes Forschungsproblem – die Identifizierung bisher anonymer Übersetzer aus dem Arabisch-Lateinischen – lösen lässt. Den Schlüssel bildeten unscheinbare „kleine Wörter“ und nicht Fachvokabeln. Deshalb detektivisch.
Die Verwendung dieser ganz normalen Wörter konnte mit bekannten Übersetzern abgeglichen werden. So bekamen namenlose Texte nach Jahrhunderten endlich einen Autor. Das habe eine „philologische Goldgräberstimmung“ ausgelöst, sagt Hasse. Einige Übersetzer kamen so durch Hasses Arbeit zu spätem Ruhm, wie etwa Michael Scotus.
„Das waren ganz bedeutende Menschen. Wenige Übersetzer der Geschichte waren so einflussreich wie diese, vielleicht Hieronymus oder Martin Luther.“ Die Forschung ist aber noch lange nicht abgeschlossen.
Momentan arbeitet Hasse an gleich mehreren verschiedenen Großprojekten, wie auch an einem arabisch-lateinischen Online-Lexikon. Mit den 2,5 Millionen Euro Forschungsgeld, die mit dem Leibniz-Preis verbunden sind, will er sich vor allem selbst wieder mehr wissenschaftlichen Freiraum schaffen und „nicht noch mehr Zügel in die Hand nehmen.“ Ganz abgeben wird er die aktuellen Forschungsaufgaben aber auf keinen Fall. „Der Tag ist schöner, wenn ich morgens schon zwei bis drei Lexikoneinträge bearbeitet habe, das bereichert meinen Resttag.“
Der Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis
Zehn Wissenschaftler bekommen am Dienstag von der Deutschen Forschungsgesellschaft den mit 2,5 Millionen Euro dotierten Leibniz-Preis überreicht. Ein Ausschuss der DFG hat aus 120 vorgeschlagenen Forschern ausgewählt.
Seit 1986 wird der Leibniz-Preis jährlich im Rahmen des Gottfried Wilhelm Leibniz-Programms verliehen, das der Bund und die Länder im Jahr 1985 eingerichtet hatten.
Unter den diesjährigen Preisträgern sind außerdem zwei weitere bayerische Forscher: Prof. Dr. Daniel James Frost, Mineraloge an der Universität in Bayreuth, und Prof. Dr. Daniel Cremers, Informatiker an der TU in München.
Die Universität Würzburg konnte bislang zehn Leibniz-Preisträger feiern, Hasse ist aber erst der zweite Geisteswissenschaftler: Otto Ludwig Lange und Ulrich Heber (Ökologie/Biochemie/1986), Hans-Peter Zenner (Hals- Nasen- Ohrenheilkunde und Zellbiologie/1987), Ingrid Grummt und Bert Hölldobler (Molekularbiologie/Zoologie/1990), Martin Lohse (Pharmakologie/1999), Ulrich Konrad (Musikwissenschaft/2001), Thomas Mussweiler (Psychologie/2006), Holger Braunschweig (Chemie/2009), Laurens Molenkamp (Physik/2014).
Auf das Preisgeld haben die Preisträger für einen Zeitraum von bis zu sieben Jahren Anspruch. jne