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WÜRZBURG: Das Buch, das Würzburg liest

WÜRZBURG

Das Buch, das Würzburg liest

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    Die Neuausgabe des „Junker Ernst“ zur Aktion „Würzburg liest ein Buch“ 2016.
    Die Neuausgabe des „Junker Ernst“ zur Aktion „Würzburg liest ein Buch“ 2016.
    Eine frühe Ausgabe der Wassermann-Novelle aus dem Jahr 1926.
    Eine frühe Ausgabe der Wassermann-Novelle aus dem Jahr 1926.

    In knapp sieben Wochen wird die Initiative „Würzburg liest ein Buch“ unserer Stadt eine Vielzahl unterschiedlichster Leseereignisse bescheren, künstlerisch experimentelle Präsentationen, dramatisierte Fassungen, Vorlesen in vielfältigen Variationen. Der gewählte Roman „Der Aufruhr um den Junker Ernst“ von Jakob Wassermann bietet schöne poetische, lyrische Passagen, denen man träumend folgen kann. Man ist gebannt und sträubt sich fast gegen die eindringlichen Schilderungen von einer Stadt im Hexenwahn. Thomas Mann lobte Wassermanns Werk als eine „großartige Mischung von Virtuosität und heiligem Ernst“ und ihn als „Welt-Star des Romans“. Die Erzählkraft des „Junker Ernst“ steht außer Frage und erschließt sich schrittweise, vielleicht erst richtig durch das laute Lesen und Vorlesen. Man merkt an der Sprache und an manchen Denkmustern, dass das Buch genau vor 90 Jahren geschrieben wurde.

    Und doch ist es eine gute Wahl, nicht nur deswegen, weil Wassermann (1873-1934) ein fränkisch-jüdischer Autor, geboren in Fürth, ist, der einige Romane in Franken ansiedelte: „Die Juden von Zirndorf“, „Caspar Hauser oder die Trägheit des Herzens“, „Das Gänsemännchen“ und „Der Aufruhr um den Junker Ernst“. Er gestaltete die Themen seiner fränkischen Heimat authentisch und mit einem psychologischen und atmosphärischen Tiefgang. Ebenso war ihm der romantisch irrationale Touch nicht fremd.

    Berühmt war der Roman „Der Fall Mauritius“ (1928). In dem autobiografischen Buch „Mein Weg als Deutscher und Jude“ (1921) bekannte er sich zur Synthese von Judentum und Deutschtum. „Gut deutsch“ und heimatverbunden klang das Bekenntnis, er fühle sich „heimatlich auf dem Boden, der ihn nähre, verpflichtet der Not und dem Glück des Volkes, Herz an Herz geschlossen an ihre Besten und geistig geformt durch ihre Sprache“. Von diesem Buch erhoffte er eine versöhnende Wirkung: „Ich bildete mir ein, den Deutschen ein wesentlich deutsches Buch gegeben zu haben, wie aus der Seele des Volkes heraus; ich bildete mir ein, da ein Jude es geschaffen, den Beweis geliefert zu haben, dass ein Jude nicht durch Beschluss und Gelegenheit, sondern auch durch inneres Sein die Zugehörigkeit erhärten, das Vorurteil besiegen könne.

    “ Der seit 1898 in Wien lebende Wassermann litt stark unter dem hasserfüllten Antisemitismus, der ihn als Fremden in der deutschen Literatur ausgrenzte.

    Porträt des Schriftstellers Jakob Wassermann.
    Porträt des Schriftstellers Jakob Wassermann. Foto: Foto: Jüdisches Museum Franken

    „Der Aufruhr um den Junker Ernst“ lässt zunächst keinen Hinweis auf das jüdische Leiden an Deutschland erkennen, sondern behandelt vor allem Leiden in Deutschland, speziell im Würzburg von 1626. Wassermann kannte Würzburg von einem längeren Be-such beim Vater 1890 und seinem einjährigen Militärdienst 1891, den er in Würzburg ableistete, und der ihn in langen Märschen Mainfranken nicht freiwillig, aber genau kennenlernen ließ. Deswegen konnte sich Wassermann die Atmosphäre der Region und der Stadt im Talkessel des Mains, die winkeligen und dunklen Gassen um den beherrschenden Kiliansdom, die dunkle, dumpfe abergläubische Mentalität einer ungebildeten und unterdrückten Bevölkerung in einer geduckten Stadt ausmalen.

    Der Dichter entführt uns in „dunkle Zeiten“ des 30-jährigen Kriegs und der „Hexenseuche“ im fränkischen Hochstift Würzburg, getragen von einer abergläubischen und hysterisierten Bevölkerung, systematisch durchgeführt von sich für christlich haltenden Überzeugungs- und Übeltätern.

    Zu diesen zählte Philipp Adolf von Ehrenberg (1583-1631), seit 1623 Fürstbischof von Würzburg, der eine Verfolgungswelle entfesselte, der mindestens 900 Menschen zum Opfer fielen, darunter nach einer Überlieferung sein eigener Neffe Ernst. Dieser ist Held der Novelle, der fern von Würzburg in einem verfallenen Schloss inmitten eines Waldgebirges frei und sich selbst überlassen aufwächst.

    Wie es sich Rousseau im 18. Jahrhundert schon ausdachte, entfaltet das Kind natürlich seine Fähigkeiten und entwickelt ein faszinierendes Erzähltalent. So erfindet Ernst sich eine Gegenwelt nach seiner Fantasie und Erfahrung und entführt seine Zuhörer aus ihrer hoffnungslosen Gegenwart in eine magische Märchenwelt, in der Gerechtigkeit und das Gute siegen. Damit spendet er Trost und findet eine begeisterte Anhängerschaft.

    Sein genialisches Reifen und Wirken wird jäh gestört, als Ernsts Mutter den Onkel des Jungen, den Fürstbischof Ehrenberg um Unterstützung bittet. Der ist von Ernsts gewinnender Persönlichkeit fasziniert und nimmt ihn mit in seinen düsteren Palast in Würzburg. Der Urheber der Hexenverfolgung, der Jesuitenpater Gropp, erkennt in Ernst seinen eigentlichen lebensbejahenden Ge-genspieler und will ihn als gefährlichen Leugner der Hexengefahr, von der Gropp in einem satanischen Weltbild überzeugt ist, hinrichten.

    Der Jesuit Spee, der mutige Gegner der Hexenverfolgung, widmet sich dem eingekerkerten und desorientierten Jungen. Auch der Bischof will den Neffen vor der öffentlichen Verbrennung retten, befreit jedoch wird er durch eine Rebellion seiner jugendlichen Anhänger. Stetig wächst deren Widerstand zu einem insgeheim organisierten Sturm auf das Gefängnis, der an den Sturm auf die Bastille erinnert. Der befreite Erzähler Ernst kann jedoch seinen fordernden Fans keine Märchen mehr erzählen, denn die kurze Flucht in die heile Märchenwelt reicht in der Dunkelzeit nicht, die Ernst fast das Leben gekostet hätte. Noch weiß Ernst nicht, was er zukünftig erzählen wird.

    Im Mittelpunkt des Buchs steht nicht die historische Realität von 1626, sondern eine pure Fiktion. Einerseits geht es um Junker Ernst, in dessen Erzählgenie und Wirkung Wassermann seine Vorstellung vom Schriftsteller und von Literatur einarbeitet. Andererseits geht es um eine Gesellschaft im Ausnahmezustand, zersetzt vom staatlichen Terror und einer alles überlagernden Angst, um eine tödliche, menschenfeindlichen Ideologie, die von Unwissenheit und Aberglauben der einfachen Bevölkerung lebt. So bildete er in diesem Würzburg von 1626 die möglichen Folgen des aggressiven und mörderischen Antisemitismus und der deutschen Sehnsucht nach einer Diktatur, ab. In der Vergangenheit von 1626 fand Wassermann ein Bild der Zukunft von 1933. Ein früher Tod 1934 ersparte ihm Flucht oder Ermordung durch die Deutschen, die ihm in ihrer Kultur keinen Platz einräumen wollten.

    Wie Leonhard Frank in dem Roman „Die Jünger Jesu“, 2014 für „Würzburg liest ein Buch“ ausgewählt, deutet Wassermann in den revoltierenden Jugendlichen eine utopische Hoffnung an. Doch das Happy-End wird gebrochen, in Frage gestellt. Auf dem abschließenden Höhepunkt, der Befreiungsfeier, bricht die Erzählung ab. Ernst, dem eine soziale und ideelle Führungsrolle zugewachsen ist, muss kapitulieren, als seine Fans von ihm neue Geschichten fordern, den Massentraum vom Glück geliefert bekommen wollen. Welche Geschichte kann Ernst nach Folter, Verfolgung und Kenntnis todbringender Ideologie und Herrschaft noch erzählen? Das weiß auch Wassermann nicht, denn sein Ausweg aus dem politischen Verhängnis ist – wie in den Erzählungen Ernsts – märchenhaft. Mit dem Schweigen von Ernst verweist Wassermann auf die Hilf- und Sprachlosigkeit gegenüber dem hasserfüllten und mörderischen Nationalsozialismus.

    Mit dem Ende lässt Wassermann den Leser ratlos wie seinen Helden Junker Ernst zurück. Welche Geschichten sollten wir heute erzählen? Welche Literatur braucht unsere zunehmend aufgeregte und beunruhigte Gesellschaft? Zumindest werden wir im April Wassermanns „Der Aufruhr um Junker Ernst“ lesen und vorlesen, und das ist schon ein erster Schritt.

    Hans Steidle (Jahrgang 1951) ist Gymnasiallehrer für Deutsch, Geschichte und Sozialkunde am Dag-Hammarskjöld-Gymnasium. Er ist Autor zahlreicher Aufsätze und mehrerer Bücher zur Würzburger Stadtgeschichte und

    fungiert seit 2009 als ehrenamtlicher Stadtheimatpfleger.

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