Großer Verlust für den Wissenschaftsstandort Mainfranken. Zum 1. April wechselt Professor Martin Lohse, der Gründer des renommierten Rudolf-Virchow-Zentrums (RVZ) für Experimentelle Biomedizin an der Universität Würzburg, als Vorstandsvorsitzender des Max-Delbrück-Centrums (MDC) für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft nach Berlin. Ganz indes geht Lohse nicht: Er wird von der Uni Würzburg nur beurlaubt und behält eine Forschungsgruppe am Virchow-Zentrum.
Lohse (59) hat lange verhandelt. Er war als Präsident der renommierten Humboldt-Universität in Berlin nominiert, auch ein Verbleib in Würzburg stand zur Debatte. Die Entscheidung für das Delbrück-Centrum begründet der Mediziner letztlich mit dem „großen internationalen Renommee“ des Delbrück-Centrums und den dort vorhandenen Ressourcen. Der Jahresetat beträgt 100 Millionen Euro, weitgehend finanziert vom Bund. Das MDC zählt 1600 Beschäftigte, davon 1300 in der Wissenschaft. Am RVZ sind es etwa 150 Mitarbeiter und 50 Gäste.
Martin Lohse sieht die Chance, in Berlin die Forschungsarbeit zu intensivieren, die er in Würzburg erfolgreich etabliert hat. In beiden Zentren gehe es schließlich darum, eine „Brücke zwischen Labor und Krankenbett“ zu schlagen. Konkret bedeutet dies, Erkenntnisse aus der biomedizinischen Grundlagenforschung sollen helfen, Medikamente zu entwickeln, die dann bei der Therapie von Krebs- oder Herz-Kreislauf-Kranken zum Einsatz kommen.
Lohse schwärmt von der Aufbruchstimmung zur Jahrtausendwende, als die Idee vom Virchow-Zentrum als interdisziplinärer Forschungsschwerpunkt der Universität geboren wurde und sich im Wettbewerb gegen 80 Mitbewerber durchsetzte. „Da haben viele mitgeholfen und gemeinsam bürokratische Grenzen überwunden.“ Zwölf Jahre lang, von 2001 bis 2013, hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) das Virchow-Zentrum finanziert, danach stieg der Freistaat Bayern dauerhaft ein.
Am RVZ arbeiten neben Medizinern, Biologen, Chemikern und Pharmazeuten auch Physiker, Psychologen, Mathematiker und Informatiker. Ihm sei wichtig, sagt Lohse, allen Mitarbeitern, vom Professor bis zum Studierenden, maximale Freiheit zu gewähren, um Ideen zu entwickeln, weiterzuspinnen und im Zweifel auch wieder zu verwerfen. Erst Anfang März war er mit zwei Dutzend Mitarbeitern auf einer Hütte in den Bergen. Doktoranden und Assistenten aller Nationalitäten vom Ivorer über den Ukrainer bis zum Türken, fuhren gemeinsam Ski, vor allem aber nutzten sie die Abgeschiedenheit, unfertige Projekte zu diskutieren, Ideen auszutauschen, Vorhaben voranzubringen und zu priorisieren. Lohses Job dabei: „Moderieren, Fragen stellen, interpretieren . . .“
Der Schwerpunkt der Forschungen am Virchow-Zentrum gilt sogenannten Schlüsselproteinen. Obwohl nur wenige Millionstel Millimeter groß, steuern sie wie „kleine Roboter“ den Stoffwechsel im menschlichen Körper. Untersucht wird, wo und wie Arzneistoffe an den Proteinen andocken können, um ihre Funktion zu verändern und dadurch Krankheiten zu behandeln, im Optimalfall gar zu besiegen. Jüngster Erfolg der Würzburger Forscher ist die Entschlüsselung eines wichtigen Signalmoleküls in der Zellkommunikation, über das die renommierte Fachzeitschrift „Nature“ in ihrer aktuellen Ausgabe berichtet.
Dadurch ergäben sich neue Angriffspunkte zum Beispiel für Medikamente in der Schmerztherapie.
Die Grundlagenforschung am RVZ hat vielerlei praktischen Nutzen. 45 Patente haben die Würzburger Forscher in den vergangenen 15 Jahren angemeldet, darunter Medikamente gegen Herzschwäche und neue Antibiotika. Gemeinsam mit Weltfirmen wie Leica und Zeiss hat man neue Mikroskopier-Techniken entwickelt. Als große Errungenschaft wertet Lohse die Ausgründung von vier Unternehmen durch RVZ-Wissenschaftler. Schlagzeilen schrieb die Firma „Corimmun“, die Therapien gegen Herzerkrankungen entwickelt, als sie 2012 vom US-Pharmariesen Johnson & Johnson für 100 Millionen Dollar gekauft wurde. 60 Prozent davon seien zurück in die Steuerkassen geflossen. Lohse: „Forschungsinvestitionen rechnen sich also durchaus auch materiell.“
Unabhängig davon genießt das Virchow-Zentrum internationale Anerkennung. Würzburger Biomedizin-Studenten arbeiten heute an renommierten Forschungseinrichtungen „von den Niederlanden bis in die USA“, sagt Lohse nicht ohne Stolz. Gleichzeitig betont er, dass Wissenschaftler aus 40 Nationen seit 2002 am RVZ geforscht haben, allen voran Inder und Franzosen.
Der scheidende Professor hinterlässt ein gut bestelltes Haus. Unter seinen Nachfolgern Caroline Kisker und Bernhard Nieswandt (siehe Infobox) werde das Zentrum weiterhin „ein Motor für Innovation“ bleiben, ist er sicher. Der Universität Würzburg wünscht der 59-Jährige, dass sie sich mehr am Geist der RVZ-Gründerjahre orientiert. „Gemeinsinn statt Kirchturmdenken“ brauche es, so Lohse. Im Wettbewerb der Wissenschaftsstandorte bedürfe es der Kooperation mit außeruniversitären Einrichtungen. Eine zentrale Rolle komme der zügigen Ansiedlung der Max-Planck-Forschungsgruppe für Systemimmunologie zu. Auch ein Erfolg beim Wettbewerb um ein Helmholtz-Institut für Infektionsforschung sei wichtig.
Eine Helmholtz-Einrichtung ist das Max-Delbrück-Centrum in Berlin. Als Vorstandsvorsitzender will Lohse auch dort Begeisterung für die medizinische Forschung wecken und deren Anwendung vorantreiben, etwa in Kooperation mit dem Klinikum Charité und dem neuen Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIG). Die Entwicklung gehe hin zu einer „personalisierten Medizin“, sagt Lohse. Mehr und mehr finde man Möglichkeiten, Patienten gerade auch bei Krebs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen „maßgeschneidert“ zu therapieren. Dies sei für die Forschung eine große Herausforderung.
Dazu gehöre auch, die psychischen Aspekte zu berücksichtigen, die bei der Behandlung eine „große Rolle“ spielten. Eine ungewohnte Einsicht für einen Biomediziner? Nicht, wenn er Martin Lohse heißt. Neben der Humanmedizin hat er schließlich einst auch Philosophie studiert.
Doppelspitze für das Virchow-Zentrum
Nach dem Wechsel von Martin Lohse nach Berlin bekommt das Rudolf-Virchow-Zentrum (RVZ) für Experimentelle Biomedizin eine Doppelspitze. Ab dem 1. April übernehmen Prof. Dr. Caroline Kisker (51) und Prof. Dr. Bernhard Nieswandt (47) die Leitung der 2001 gegründeten Forschungseinrichtung.
Beide Wissenschaftler sind schon lange im Vorstand des Zentrums tätig und bringen entsprechend Erfahrung mit. Kisker ist seit 2005 Inhaberin des Lehrstuhls für Strukturbiologie an der Uni Würzburg. Zuvor forschte und lehrte sie unter anderem in Kalifornien und New York. Ihre Forschungsschwerpunkte sind DNA-Reparaturen und Antibiotikaresistenzen. Seit 2009 ist sie auch Dekanin der „Graduate School of Life Sciences“ der Uni Würzburg.
Nieswandt ist Experte für Gefäßbiologie, seit 2002 forscht er am RVZ. Seit 2008 leitet den Lehrstuhl für Experimentelle Biomedizin. Zudem ist er seit 2011 Sprecher des Sonderforschungsbereichs „Mechanismen und Bildgebung von Zell-Zell-Wechselwirkungen im kardiovaskulären System“. An der Uni ist er Prodekan der medizinischen Fakultät.
Martin Lohse (59) ist ein Sohn des Theologieprofessors und evangelischen Bischofs Eduard Lohse. Er studierte Medizin und Philosophie in Göttingen, London und Paris. Seit 1993 leitete er das Institut für Pharmakologie und Toxikologie an der Universität Würzburg. Seit 2001 amtierte er als Gründungssprecher des Rudolf-Virchow-Zentrums. Lohse wurde 1999 mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet.
micz/FOTO: RVZ