Es ist ein kühler Regenmorgen. Wir parken an einer Bahnunterführung bei Rieneck (Lkr. Main-Spessart) nahe einer sumpfigen Wiese. Detlev Drenckhahn, Stiftungsratsvorsitzender des WWF Deutschland (World Wild Fund For Nature) geht flott ein Stück Weg, weist auf ein paar weiße Blumen, biegt sofort ab ins hohe Gras und zielt geradewegs eine der zierlichen Pflanzen an. „Den haarstrangblättrigen Wasserfenchel gibt es in ganz Bayern nur hier.“ Drenckhahn hat diesen Wuchsort zufällig entdeckt, als er die Blüte der Schachbrettblumen dort genoss. Ab 1. Juli, wenn er als Chef des WWF im Ruhestand ist, will er öfter hinaus in die Spessart-Botanik.
Die Szene an der Sumpfwiese sagt einiges über den weißhaarigen Professor, dem gut sieben Jahrzehnte Leben erstaunlich wenige Falten im Gesicht hinterlassen haben. Er wirkt an diesem Morgen und später im Büro in der Würzburger Anatomie wie einer, der stets sicheren Schrittes aufs Ziel zugeht – mit wissenschaftlichem Interesse und zuverlässiger Intuition, ungerührt von Hindernissen.
Mit seiner Frau Helga hat er am Morgen schon die Pflanzen eines anderen Wiesenstücks kartiert. Weil in der Nacht Unwetter gewütet hatten, waren die beiden mit dem Auto zwischendurch im aufgeweichten Boden stecken geblieben. Als die Gewitter tobten, Keller vollliefen, Bäume umstürzten, hatte Drenckhahn noch per Mail zu Bedenken gegeben, den ausgemachten Termin beim Wasserfenchel zu verschieben. Im milderen Morgenregen überlegt er nur noch, wie er trotz gefluteter Wege ein weiteres Vorkommen der seltenen Pflanze erreichen kann.
Der haarstrangblättrige Wasserfenchel bei Rieneck ist nicht Drenckhahns erste Entdeckung. Er erzählt von Emotionen, die ihn zu wissenschaftlichen und politischen Erfolgen leiteten. Begeisterung und Groll hätten ihn zum WWF – oder vielleicht auch den WWF in seine Fänge – getrieben, sagt er und lächelt. Begeistert ist er von der Nordseeküste, wo er aufwuchs. Von manchen arktischen Vogelarten lebe zeitweise der ganze Weltbestand dort: „Wunderbare Vögel, die sich im Wattenmeer voll Kraft tanken und in beeindruckenden Schwärmen von Hunderttausenden auffliegen.“ Er erzählt von Knutt und Kurzschnabelgans. Deren Lebensraum, die Salzwiesen, sollten Ende der 1970er Jahre für die Landwirtschaft gewonnen werden.
Das ärgerte ihn. Besonders groß war die Enttäuschung, dass der Staat sich nicht an eigene Naturschutz-Festlegungen hielt, die Bedeutung der Region für die Vögel nicht wahrnahm. Drenck-hahn, damals wissenschaftlicher Assistent an der Kieler Uni, machte aus dem Einsatz für das Watt, an dem viele beteiligt waren, ein persönliches Projekt. Im WWF entdeckte er den Partner für politisch wirksamen Protest. Die Organisation verstand sich damals vor allem als Geldsammlerin für den Artenschutz in Afrika. Lokale Projekte gab es nicht, und die deutsche Sektion hatte mit regionalen Protesten nichts am Hut. Einzelne aber erkannten die Bedeutung der Wattschützer-Bewegung. Schließlich bot der WWF Unterstützung mit Geld und Kontakten.
„Und so bin ich in diese Kreise gekommen“, sagt Drenckhahn. Weil der Mediziner als Ornithologe bekannt war, berief ihn der WWF Deutschland in den Wissenschaftlichen Beirat, der das Watt-Thema bearbeitete.
Drenckhahn erzählt, wie er damals als Neuling im Verband Menschen mit Einfluss kennen lernte: Prinz Philipp von England, den Tierfilmer Bernhard Grzimek, Prominente aus Politik und Wirtschaft, aber auch Unbekannte mit Engagement und Geschick.
Ein Netzwerk entstand, aus dem Mittelbeschaffer wurde eine Naturschutzorganisation. Eigentlich habe er den WWF dazu gebracht, sagt Drenckhahn schlicht. In den 1980er Jahren wurde er Chef des Wissenschaftlichen Beirats, im Jahr 2005 dann deutscher WWF-Präsident und 2012 Stiftungsratsvorsitzender. Der WWF habe ihm viel beigebracht: Vertiefung ins Naturschutzrecht, den Umgang mit viel Geld, Gespür für internationale Umweltpolitik und regionale Themen.
Seine Frau Helga tippte anfangs Tausende von Briefen, begleitete später ihren Mann zu WWF-Terminen in der ganzen Welt und geht jetzt im Spessart mit auf Kräutersuche. „Sonst würde ich es nicht machen“, sagt Drenckhahn. Zu viel Zeit habe sein wissenschaftliches und nebenberufliches Engagement der Familie schon genommen. Seine Frau sagt, sie empfinde es als Bereicherung, den Blick des Wissenschaftlers zu teilen.
„Wenn ich durch die Natur gehe, versuche ich, alles zu erfassen“, sagt Drenckhahn. Mit der Botanik hat er in den 1990er Jahren in Franken begonnen. „Ich wollte einfach immer wissen: Wie heißt das Ding, das da wächst.“ Eine ganze Wand in seinem Büro nehmen die flachen Schubladen mit Pflanzen ein. Drenckhahn kommt über seine Projekte für Wissenschaft und Naturschutz ins Philosophieren: „Es geht darum, das Leben im weitesten Sinn schön zu finden.“ Ein Tag, verbracht mit Wald, Wiese, Wetter und Vogelgezwitscher, schaffe gedankliche Freiheit für die großen Zusammenhänge. So hat es eine innere Logik, dass er trotz des frühen Interesses für Artenschutz Mediziner wurde. „Medizin ist ein basales Studium. Ich bin eigentlich Lebenswissenschaftler geworden.“
Ein Gespür für das, was das Leben im Augenblick verlangt, hat er wohl auch. So gründete er 2005 bei einer Brasilienreise aus Entsetzen über die Zerstörung eines Dschungelgebiets spontan den Rosa-Delfin-Club als Hilfsorganisation, weil das WWF-Budget verplant war. Das Graffiti auf einem Schuppen inspirierte ihn zu Namen und Logo. Er holt die Tasse mit dem Delfinmotiv aus dem Regal und lacht. Der damalige Einfall macht ihm heute noch Spaß. Geschickt brachte er Spenden und Menschen zusammen und das Thema in die Öffentlichkeit.
„Mein größter Erfolg“, sagt Drenckhahn. 2006 wurde der Dschungel Nationalpark. Pragmatisch denkt er auch über den Waldschutz in der Region, zum Beispiel im Steigerwald. Das Thema Nationalpark sei verbrannt, sagt er. Der Titel sei ihm deshalb egal, wichtiger sei der Schutz der Region.
Im Büro unter der Dachschräge des alten Anatomiegebäudes der Uni sitzt er auf einer Sofainsel zwischen Büchern und Geräten, an denen er gerade noch genetische Untersuchungen gemacht hat. Das ist der Kontrast zur Wasserfenchelwiese, zu nassen Klamotten und kalten Füßen. Hier sinnt ein kühler Kopf über Strukturen und Verknüpfungen.
Hitziger mag es im WWF-Büro früher in Frankfurt und jetzt in Köln zugegangen sein, als sich der Verband mit heftiger Kritik herumschlagen musste. Etwa als der spanische König Juan Carlos, satzungsgemäß WWF-Ehrenpräsident, Schlagzeilen als Elefantenjäger machte. Die Satzung wurde geändert, das Amt gestrichen. „Wir sind gegen Großwildjagd“, sagt Drenckhahn. Tourismus und besonders Trophäenjäger brächten aber das Geld für den Naturschutz in die Region. Deshalb gebe es Abschusspläne. „Das ist kein Kompromiss, sondern eine Strategie.“
Auch die Zusammenarbeit mit Unternehmen verteidigt Drenckhahn. Den WWF hätten Naturwissenschaftler gegründet, um die Tierwelt zu schützen und dafür Geld von den Reichen zu nehmen. Er lächelt ob der pompösen Formulierung. Und wird wieder ernst. Kritiker finden, der WWF vereinbare moralisch Problematisches mit der Wirtschaft. In Runden, die Nachhaltigkeitssiegel vergeben, säßen freilich Agrochemiefirmen wie Monsanto, aber auch kämpferische Organisationen wie Greenpeace. Das bedeute Kompromisse.
An sauberen Kooperationen habe aber die Organisation ein eigenes Interesse. Schließlich sei sie wie ein Unternehmen, dürfe nicht pleite gehen, sondern müsse wachsen. Den Spagat zwischen Basis und Business sieht Drenckhahn entspannt: Damit aus Ideen Praxis wird, braucht es Geschäft und Marketing. Das läuft nicht immer gut. Drenckhahn erzählt, dass Einheimische in Aktionsgebieten den WWF nicht immer sofort als Partner wahrnahmen. Gelenkte Großwildjagd als Naturschutzinstrument ist dafür in Europa schwer zu vermitteln.
Das international tätige Netzwerk müsse jedenfalls die Vielfalt der Kulturen berücksichtigen. Etwa, wenn es um gentechnisch veränderte Nahrungspflanzen gehe. Der WWF sei zwar weltweit dagegen, solange deren Unbedenklichkeit nicht feststehe. Aber Mitglieder in den USA etwa verstünden das deutsche Problem damit nicht. Auf Wertewandel setzt Drenckhahn deshalb nicht. „Wir versuchen es über Markttransformation.“ Über Kooperationen mit Ladenketten möchte der WWF Großlieferanten von Palmöl, die Regenwald für ihre Plantagen abholzen, beeinflussen, umweltfreundlicher zu produzieren.
Drei Kinder und sechs Enkel haben die Drenckhahns. Ist der Naturschutzfunktionär zufrieden mit dem, was er für ihre Umwelt getan hat? Er denkt ein wenig länger nach und sagt dann: „Ich denke, dass ich in meinen beruflichen und Lebenszusammenhängen nicht mehr hätte tun können.“
Detlev Drenckhahn: Der Aktivist und der WWF
Der Anatomieprofessor, Jahrgang 1944, stammt von der Insel Rügen und wuchs in St. Peter Ording (Schleswig-Holstein) auf. Seit der Schulzeit engagiert er sich für die Vögel im Watt. Seit den 1990er Jahren lebt und arbeitet der Mediziner in Würzburg. Seit 2012 war Detlev Drenckhahn Chef des WWF-Stiftungsrats. Den Erhalt der biologischen Vielfalt nennt der WWF (World Wide Fund For Nature, früher: World Wildlife Fund) als seine Mission und sich selbst die größte und einflussreichste Umweltorganisation in Deutschland. In Deutschland geht es dem WWF um den Schutz von See, Küsten, Flusssystemen, Feuchtgebieten und Wäldern und von bedrohte Arten wie Wolf, Luchs, Bär, Fischotter, Adler und Stör. Gegründet wurde der WWF 1961 international als Schweizer Stiftung und 1963 in Deutschland. Die Idee: eine Organisation, die wohlhabende Spender für den Naturschutz gewinnt und auf Dauer angelegte Schutzprojekte finanziert. Seitdem finanzierte der WWF nach eigener Angabe weltweit 13 000 Schutzprojekte in 150 Ländern mit 7,3 Milliarden Euro.