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Leben in der Barackenstadt

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Leben in der Barackenstadt

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    Leben in Baracken: Bewohner des Regierungs-Flüchtlingslagers Galgenberg sitzen vor ihrer bescheidenen Behausung.
    Leben in Baracken: Bewohner des Regierungs-Flüchtlingslagers Galgenberg sitzen vor ihrer bescheidenen Behausung. Foto: FOTO sammlung heidrun zimmermann

    Der junge Mann, der am 9. Januar 1949, dem Fest der Heiligen Familie, den Gottesdienst zelebrierte, trug das prächtige Messgewand, das einem Bischof am Altar gebührt. Doch viele der Gläubigen, die an diesem kalten Sonntag seinen Worten lauschten, waren ärmlich gekleidet und sahen abgehärmt aus.

    Auch der Gottesdienstraum hatte nichts Prunkvolles an sich: Es war die für eine Stunde zur Kirche umfunktionierte Schulbaracke des sieben Monate zuvor eröffneten Regierungs-Flüchtlingslagers Galgenberg.

    Der 35-jährige Julius Döpfner war erst im Oktober 1948 zum Bischof von Würzburg geweiht worden – zum jüngsten in ganz Europa. Die Menschen, zu denen er sprach, hatten Flucht und Vertreibung, meist aus dem Sudentenland, hinter sich und hofften trotz der mehr als bescheidenen Unterbringung in zugigen Baracken auf eine bessere Zukunft.

    Dicht gedrängt standen die Gläubigen um den festlich geschmückten Altar, vorn Mädchen mit weißen Kränzen im Haar, dahinter junge und alte Flüchtlinge, „in deren Antlitz sich die Spuren der Not zeigten“, wie die Main-Post schrieb. Der Mariannhiller Pater Edmar Sommerreißer, der die Seelsorge im Lager übernommen hatte, begrüßte den Bischof und assistierte bei der Pontifikalmesse. Auch er war erst 35 Jahre alt.

    „In einer Stube lebten manchmal vier Familien auf engstem Raum.“

    Irma Zeckel Zeitzeugin

    Der Bischof, zum Beauftragten der Deutschen Bischofskonferenz für die Vertriebenen ernannt, versuchte in seiner Predigt, den Versammelten Mut zu machen. In einer Zeit schwerster Heimsuchung sei selbst in armseligen Baracken „der Adel und die Größe eines echten Christen möglich“, sagte er.

    Als der Gottesdienst aus war, blieb Döpfner, der inzwischen das Messgewand abgelegt hatte, bei den Galgenberg-Bewohnern. Er aß mit den Flüchtlingen in einer Wohnbaracke und erkundigte sich nach ihren Sorgen und Nöten. Als er die Baracke verließ, sang ihm eine Jugendgruppe das Riesengebirgslied und ein Lied im Egerländer Dialekt.

    Die Vertriebenen überreichten dem Bischof ein selbstgefertigtes Album mit Fotografien der größeren Städte des Sudetenlandes und Texten von Heimatliedern. Noch hegten viele die Hoffnung, eines Tages in die verlorene Heimat zurückkehren zu können, in der inzwischen die Kommunisten die Macht übernommen hatten.

    Das Lager auf dem Gelände des heutigen Campus Hubland Nord der Universität war am 12. Juni 1948 von der Regierung von Unterfranken, die für die Unterbringung der Flüchtlingsströme zuständig war, eröffnet worden. Die zum Teil verwahrlosten Baracken hatten zuvor für die Aufnahme von Gefangenen der US-Behörden gedient. Es handelte sich um leichte amerikanische Armee-Konstruktionen, meist in Tropenausführung, mit Dachpappe gedeckt, ohne hinreichende Isolierung und räumliche Einteilung. Die Holzhäuser waren somit alles andere als geeignet für das Leben auf der Höhe, auf der stets Wind weht. Zudem verfügten sie lediglich über kleine Schiebefenster mit einer undurchsichtigen Platte anstelle des Fensterglases.

    Richtige Fenster waren bereits eingesetzt, als die ersten Vertriebenen kamen, doch der restliche Ausbau dauerte noch viele Monate.

    Zuerst wurden Fundamente für jene Baracken geschaffen, die nur auf morschen Pfählen standen. Arbeiter brachten die sanitären Anlagen in einen benutzbaren Zustand, bauten Installationen und Kamine ein und befestigten die bei Regen schlammige Hauptstraße. Der dichte Stacheldrahtzaun, der das Lager umgab, blieb stehen.

    Sehr schnell mussten auch Zwischenwände in die jeweils rund 210 Quadratmeter großen Unterkünfte eingezogen werden. Dabei entstanden zunächst jedoch keine Wohnungen, sondern pro Baracke nur drei sogenannte „Stuben“; in jeder wurden durchschnittlich 15 Menschen, gelegentlich auch mehr, untergebracht. Ihr Essen erhielten sie aus der Lagerkantine. Um 12 Uhr gab es Mittagessen, bei dem man auch gleich das Abendbrot in Rationen mitbekam. Bedürftige brauchten nichts zu bezahlen. Die Regierung von Unterfranken stellte Mobiliar und Öfen zur Verfügung, so dass ab Herbst jedes Barackendrittel beheizt werden konnte.

    „In einer Stube lebten manchmal vier Familien auf engstem Raum“, einnert sich Irma Zeckel, die achtjährig im November 1948 mit Schwester, Bruder, Mutter und Großvater ins Lager kam. Erst später erhielten viele Baracken weitere Zwischenwände, die zwar nicht die drangvolle Enge beseitigten, immerhin jedoch ein Minimum an Privatsphäre ermöglichten.

    Eine Monat vor Irma Zeckels Ankunft hatte ein Reporter der Main-Post die kleine Barackenstadt auf der Höhe besucht. Am 16. Oktober 1948 veröffentlichte er unter dem Titel „Flüchtlingsschicksale“ seinen Artikel über das zu diesem Zeitpunkt noch äußerst primitive Leben im Lager und den frischen Schmerz der aus ihrer Heimat Vertriebenen.

    Die Räume seien in allen Fällen überbelegt, schrieb er. „In vielen ,Stuben? stehen die Feld- und Einheitsbetten übereinander und trotzdem ist kein Platz mehr für einen Schrank vorhanden.“

    „Und doch sind die einzelnen Räume nicht gleich“, hieß in dem Bericht weiter. „Den einen haben sich die Bewohner mit bescheidensten Mitteln wohnlich gemacht, indem sie zum Beispiel Gardinen aus Verbandsmull an den Fenstern anbrachten. In der Stube gegenüber hängen Windeln und Tabakblätter einträchtig nebeneinander quer durch den Raum.“

    Die seelischen und materiellen Nöte der Flüchtlinge seien aber überall dieselben.

    Zu den materiellen Nöten gehörte die schwierige Suche nach einem angemessenen Arbeitsplatz, um nicht von Fürsorge abhängig zu sein. Ein junger Mann äußerte sich dem Reporter gegenüber desillusioniert: „Eindringlinge sind wir heute, lästige Konkurrenten, die man unterdrückt.“ Schutträumen, Steine tragen, Fronarbeit bei den Bauern – „dazu sind wir gut genug.“

    Ein 50-jähriger kriegsversehrter Weber sah keine Chance, in seinem Beruf unterzukommen und hatte eine Heimarbeit angenommen. Er schmirgelte ausgesägte Holzelefanten ab, bemalte sie und setzte sie auf ein Brettchen mit vier Rädern. „Die Bezahlung ist sehr niedrig“, berichtete er. „Ich bekomme für das Stück nur 50 Pfennige.“

    Ein Dachdeckermeister, der im Sudentenland ein gut gehendes Geschäft und ein eigenes Haus besessen hatte, musste als einfacher Arbeiter gehen, weil, wie er erfuhr, in Würzburg das Dachdeckergewerbe überlaufen sei.

    In einer „Stube“ wohnte ein Mann mit seiner siebenköpfigen Familie, der sich stolz „Fuhrunternehmer“ nannte, weil er einen alten Gaul und einen Wagen besaß. Es gehe ihm immer noch besser als seinem Schwager, betonte er. Dieser sei, wie er selbst, früher Großbauer gewesen und könne jetzt als Knecht bei einem unterfränkischen Bauern seine Familie kaum ernähren.

    Nur ein alter Oberlehrer äußerte sich zufrieden. In wenigen Tagen werde er im Lager eine Schule eröffnen, in der er dann mit einem Kollegen 57 Flüchtlingskinder unterrichte. „Wir haben hier acht- und neunjährige Kinder, die noch nie in einer Schule gewesen sind“, sagte er.

    Die Einrichtung, in der die beiden Lehrer in zwei Räumen von Montag bis Samstag alle Jahrgangsstufen bis zur achten Klasse unterwiesen, sollte sich schnell zu einem Zentrum des Lagerlebens entwickeln. Ihre wichtigste Funktion war es, endlich einen regelmäßigen Rhythmus in den Tagesablauf der Buben und Mädchen zu bringen, für die es zudem bald Jugendgruppen gab. An Sonn und Feiertagen wurde in der Schulbaracke Gottesdienst gefeiert, abends diente einer der beiden Räume als Lesezimmer, in dem von Verlagen gespendete Zeitungen und Zeitschriften auflagen und Vorträge gehalten wurden.

    Langsam kehrte im Lager so etwas wie Normalität ein. Immer mehr Vertriebene fanden Arbeit in der Stadt und der Umgebung und Kinder bereiteten sich auf die erste heilige Kommunion am Galgenberg vor.

    Das Flüchtlingslager am Galgenberg wird auch in Roland Flades Buch „Würzburgs neuer Stadtteil Hubland. Seine Geschichte vom 18. bis zum 21. Jahrhundert“ behandelt. Das Lager soll in der Ausstellung zur Geschichte des Hublands während der Landesgartenschau 2018 eine wichtige Rolle spielen.

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